Einführung in die Oral History

Der Begriff der »Oral History« wird heute in verschiedenen Zusammenhängen verwendet und ist zu einer Bezeichnung für verschiedenste Ansätze geworden. Im Zentrum steht dabei immer das mündliche, lebensgeschichtliche Interview mit Personen über die Vergangenheit. In der Wissenschaft ist »Oral History« bis heute außerdem ein etablierter Forschungsansatz, in dem diese Interviews als historische Quelle herangezogen werden, die überhaupt erst durch Befragung der Personen erzeugt wird. Nicht nur die Geschichts- sondern auch zum Beispiel Sozialwissenschaften oder Ethnologie benutzen bis heute Instrumentarien der biographischen Befragung von Personen.

Zeitzeug*innenenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg

Auch wenn viele große Zeitzeug*innenprojekte seit den 1970er Jahren Bedeutung erlangten, geht die Bedeutung des Zeitzeugen weiter zurück, wie z.B. Martin Sabrow nachweist (Vortrag von Martin Sabrow 2012, PDF). Bei der juristischen Aufarbeitung des Holocaust spielten in den Nürnberger Prozessen und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen vor allem Tat-und Augenzeugen der Verbrechen eine wichtige Rolle. Generalstaatsanwalt Gideon Hausner rief im Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem auch Zeugen auf, die nicht direkt die Verbrechen bezeugen sollten, sondern die durch den Bericht von ihren Erlebnissen die NS-Verbrechen in ihrer Gesamtheit dokumentieren sollten. Die Verwendung des Begriffs Zeitzeuge führt Sabrow auf einen Spiegel-Artikel von 1975 zurück, in dem die Kriegserlebnisse Erich Kubys besprochen werden (Spiegel 42/1975).

Chancen der »Geschichte von unten«

In der Fachwissenschaft dominierte zunächst die Euphorie über die Möglichkeit der Rekonstruktion bisher nicht dokumentierter Lebenswelten und deren Erschließung durch Quellen. Sie versprachen Formen der »Gegengeschichte« und kritisches Hinterfragen etablierter Geschichtsbilder, indem bisher wissenschaftlich vernachlässigte Bevölkerungsgruppen in den Blick genommen werden konnten. In Deutschland entstanden ab den 1980er-Jahren umfangreiche Projekte, wie z.B. »Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet« unter der Leitung Lutz Niethammers. Niethammer kannte die Methode aus den USA, wo sie aber vor allem genutzt wurde, um Erinnerungen bedeutender Persönlichkeiten zu dokumentieren.

Im Laufe ihrer Geschichte sah sich die Oral History in den Geschichtswissenschaften immer wieder dem Vorwurf der Subjektivität ausgesetzt. Dieses hohe Maß an Subjektivität sorgt besonders deshalb für Kritik, da aus den geführten »subjektiven« Interviews in ihrer Analyse und Auswertung Aussagen über historische Zusammenhänge und Ereignisse abgeleitet werden. Die berechtigte Frage lautet daher, wie der Transfer von individueller Erinnerung und Erfahrung zu Geschichtsdeutung geschehen kann. Die Oral History Quelle muss wie jede andere historische Quelle der Quellenkritik unterzogen werden, die besondere methodische Herausforderungen birgt. Lutz Niethammer verweist darauf, dass man mit einzelnen Interviews bereits Aussagen darüber treffen kann, »wie Erinnerung verläuft« und wie »gesellschaftliche Meinungsstereotype angeeignet werden« können.

Christof Dejung schreibt: »In mündliche erzählten Erinnerungen wird die Vergangenheit also nicht zwangsläufig stärker verzerrt als in schriftlichen Quellen – die Verzerrung erfolgt allenfalls einfach auf eine andere Weise.«
(Dejung, Christoph: Oral History und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 34. 2008, S.96-115, S.107.)