Aus dem akademischen Mittelbau

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Es mangelte nicht an Zuneigung, aber an Büchern, Museen- oder gar Theaterbesuchen. Meine Eltern haben wenig gelesen und kein echtes Interesse an Kultur. Als Kind habe ich ebenfalls wenig gelesen und hatte im Vergleich zu meinen Mitschülerinnen eine Lese- und Schreibschwäche. Zu allem Überfluss war ich auch sehr unruhig. Lehrer legten meinen Eltern nahe, dass ich die Hauptschule besuchen sollte. Es versteht sich von selbst, dass dieser Bildungsweg prägend ist. Für mich war nichts ferner als die Vorstellung, an einer Hochschule zu studieren. Ich hatte nicht die leiste Ahnung, was man unter Philosophie versteht. Mit Philosophie kam ich durch Zufall in Kontakt. Ein Freund vom Gymnasium – heute haben wir beide einen Doktortitel – erzählte mir von der Philosophie Kants.

Es ist wichtig, seine Defizite zu erkennen, um sie zu beseitigen. Letzteres kostet zusätzlichen Aufwand und Zeit. Zu meinem Glück bieten deutsche Hochschulen Aufbaukurse für diverse Sprachen an. Unter anderem waren es Angebote dieser Art, mit denen ich manche Schwierigkeiten überwinden konnte. Allerdings halte ich es für illusorisch, alle Unterschiede durch nachträgliche Mühen auflösen zu können. Beispielsweise habe ich als Student Stipendiaten namhafter Stiftungen kennen gelernt, die allesamt aus Akademiker-Elternhäusern kamen. Das ist kein Zufall und auf dieser Grundlage ist häufig auch die Folgefinanzierung für die Promotion gesichert. Ein solcher Lebenslauf sieht natürlich auch besser aus. Die Soziologin Christina Möller zeigte in einer Studie, dass zwischen 2001 und 2010 nur zehn Prozent aller berufenen Hochschullehrer aus der Arbeiterschicht stammten.

Von der Hauptschule aus ist es zunächst schwierig, die Berührungsangst mit dem Thema Studieren zu verlieren. Wer aus einer Arbeiterfamilie kommt, hat typischerweise keinen geradlinigen Lebenslauf und ein höheres Alter ist eine formale Hürde für manche Förderungen. Davon abgesehen ist es nicht unproblematisch, Schwierigkeiten im akademischen Bereich auf seinen speziellen Bildungshintergrund zurückzuführen. Ich glaube allerdings, dass ich noch immer bestimmte Defizite habe, die mit meinem Bildungshintergrund zusammenhängen. Ich habe mich beispielsweise immer schwer damit getan, Sprachen zu lernen und habe auch lange mit dem Englischen gekämpft.

Dass ich letztendlich in der Philosophie gelandet bin, hat auch mit zufälligen Begegnungen zu tun. Die Bekanntschaft mit der Philosophie muss aber nicht dem Zufall überlassen sein. Das Projekt Corrupt the Youth aus den USA könnte hier Vorbild sein. Hier wird auch Jugendlichen aus der Arbeiterschicht die Möglichkeit geboten, sich mit Philosophie vertraut zu machen. Davon abgesehen, habe ich aufgrund meiner Biographie Zweifel am deutschen Schulsystem. Ich halte viel vom Konzept der Gesamtschule, das verschiedene Bildungsgänge in einer Schule vereint und eine höhere Durchlässigkeit verspricht.

Der Verfasser dieses Beitrags ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer deutschen Universität.

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