Defizite bei der Transformation der Mediensystemen nach dem Wechsel von kommunistischen zu demokratischen Systemen

Milton, Andrew K. (2001).
Bound But Not Gagged. Media Reforms In Democratic Transitions.
In Comparative Political Studies, Vol. 34 No. 5, S. 493 – 526

Miltons Beitrag ist in dem Sinne hilfreich zur Untersuchung von Journalismus in Mittel- und Osteuropa, als dass er zu verstehen hilft, auf welche Art und Weise sich die Mediensysteme in Ländern wie Ungarn, Tschechien und der Slowakei – allesamt Gesellschaften im demokratischen Wandlungsprozess – transformiert haben. Weiterhin ergeben sich daraus die Defizite, Probleme und Herausforderungen, mit denen die jeweiligen Mediensysteme bis in die Gegenwart zu kämpfen haben.

Thesen

  • Politische Akteure streben nach der Hoheit über politische Institutionen und die Prozesse ihrer demokratischen Rekonstruktion mit dem Ziel, diejenigen organisatorische Ressourcen beizubehalten, durch die sie sich die Durchsetzung der eigenen Interessen erhoffen.
  • Das beinhaltet auch die Bewahrung der bestehenden institutionellen Verbindungen zwischen Medien und politischen Akteuren (Einzelpersonen, Parteien, Regierung), die die sich daraus ergebenden Möglichkeiten der Manipulation zur Vorteilsbeschaffung nutzen.
  • Dieses Verhaltensmuster sind jedoch weder spezifisch für noch ein Alleinstellungsmerkmal des Postkommunismus, sondern ideologisch neutral.

Methode

  • Institutionelle und organisatorische Analysen zur Identifizierung grundlegender historischer Muster der Politik der Medienreformen im postkommunistischen Mittel- und Osteuropa (Slowakei, Tschechien, Ungarn) und in Taiwan (Einparteienstaat ohne Leninismus)

Zum Begriff der Institution und der Organizational Resources Approach

  • Institutionen sind „patterned, routinized interactions that follow from political relationships that are ordered by rules, roles, strategies, cultures […] that motivate action „often based on identifying normatively appropriate behavior““ (S. 499)

Der Übergang von Institutionen vom Autoritarismus zur Demokratie scheitert daran, dass politische Institutionen sich nur dann ändern, wenn sie nicht in der Lage sind, die Interessen derer, die direkte Macht auf sie ausüben, durchzusetzen. Die Abhängigkeit der Medien ist solch eine Institution, die aus Sicht der aufstrebenden politischen Elite keiner Änderung bedarf .
Die ersten „Demokraten“ in Ost- und Mitteleuropa kamen innerhalb eines etablierten institutionellen Rahmens an die Macht, doch anstatt die Medien aus ihrer institutionellen Verantwortung und Abhängigkeit zu entlassen war der Wille der aufstrebenden politischen Elite diejenigen Strukturen, die den Erfolg erst ermöglichten, dahingehend zu ändern, das die Sicherheit des eigenen politischen Erfolges gefährdet wird, eher gering.
Es wird geschlussfolgert, dass wenn organisatorische Ressourcen und institutionelle Beziehungen nicht signifikant reformiert werden, sich politische Verhaltensweisen ebenfalls nicht signifikant verändern.  Dieser Gedanke wird von Milton als Organizational Resources Approach bezeichnet. Dieser steht im Widerspruch zu zwei anderen Ansätzen, die sich mit postsowjetischen Wandlungsprozessen auseinandersetzen: Der Transitions Approach konzentriert sich auf die Bedingungen, innerhalb derer Eliten neue Institutionen schaffen, die alle Akteure an die demokratischen Prozesse binden und geht davon aus, dass politische Akteure sich eher Niederlagen fügen, wenn sie glauben, dass der institutionelle Rahmen des demokratischen Wettbewerbs es ihnen ermöglicht, ihre Interessen in der Zukunft durchzusetzen. Der Leninist Legacy Approach hingegen betrachtet den Leninismus als Quelle politischer, sozialer, wirtschaftlicher Probleme, die sämtliche Bemühungen um Demokratie im Keim ersticken.

Die Medien in Mittel- und Osteuropa vor 1989

Die Geschichte der Medien in Mittel-und Osteuropa im 20. Jahrhundert zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, wem sie dienen. Sie fungierten vor allem als politisches Werkzeug, indem Presse und Rundfunk von einzelnen Politikern, Parteien, der Regierung oder dem Staat kontrolliert wurden und/ oder sich in deren Besitz befanden. Das führte zur Verzerrung von Inhalten und eigennützigen Personalentscheidungen. Auch die Nachrichtenagenturen waren staatlich.
Die von den nationalen Regimen geschaffenen Strukturen der Abhängigkeit der Medien und die daraus resultierenden organisatorischen und institutionellen Möglichkeiten der Ausbeutung zur Machtsicherung wurde in den folgenden Jahrzehnten von den Nationalsozialisten, den Kommunisten und anschließend den  „Demokraten“ übernommen, wodurch die Etablierung freier und unabhängiger Nachrichtenmedien verhindert wurde.

Tschechoslowakei / Tschechien und Slowakei nach 1989

  • Bewahrung organisatorischer und institutioneller Strukturen früherer politischer Perioden; Errichtung neuer Stationen und Sender verboten
  • Abhängigkeit des Rundfunks vom Staat alsbald von den neuen Akteuren ausgenutzt: Berichterstattung in Radio und Fernsehen jeweils von oppositioneller tschechischer Bewegung Civic Forum und slowakischer Public Against Violence dominiert
  • neue demokratische Kräfte verwiesen zwar auf die demokratiestiftende Funktion freier Medien, setzten dies aber nicht um à Bereitschaft der politischen Akteure, die institutionellen Strukturen genauso zu ihrem Vorteil zu nutzen, wie sie es unter einem anderen Regime noch ablehnten
  • nach der Revolution 1993: Errichtung von Institutionen zur Sicherstellung der Abhängigkeit der Medien in beiden Ländern
  • Folge: Schließung unabhängiger Zeitungen; Errichtung von Informationsagenturen; Aufruf an Journalisten positiven Beitrag zu leisten, ansonsten Entlassung; Rundfunk durch staatliche Kommissionen kontrolliert
  • Nachfolgende Regierungen zeigten ähnliche Bemühungen gemäß ihren Eigeninteressen

Ungarn nach 1989

  • Jahrelanger Konflikt zwischen Premierminister und Präsident über die Aufsicht und Ernennungen beim Rundfunk
  • Einsetzung einer Kommission zur Beobachtung, in der die Parteien proportional repräsentiert waren
  • Politisierung der Rolle und Beziehung, des Auftrags und Inhalts der Medien zum Staat –> die sogenannten „Medienkriege“ sind die Folge, in deren Zuge sich die politischen Akteure Wahlerfolg und Macht durch die Kontrolle der den Wählern zugänglichen Informationen versprachen
  • Nach Wahlen 1995 sozialistische Regierung, ehemals Opposition: Rollen wurden getauscht, aber das rollenspezifische Verhalten bezüglich der Einflussnahme auf die Medien blieb bestehen

Vergleich mit Taiwan

  • 1940er bis 1980er: Einparteienstaat (Kuomintang) mit leninistischen organisatorischen Prinzipien gleich den Regimen in Mittel-Osteuropa
  • 1949 bis 1987 (Ausnahmezustand): organisatorische Abhängigkeit und Kontrolle der Medien durch KMT –> Besitz von Zeitungen und Fernsehstationen; Hoheit über Ernennungen, Inhalte, Zulassungen; Vorzensur; Informationsagentur
  • Mitte der 1970er-Jahre: Ruf nach Demokratisierung wurde lauter à Redakteure, die sich dem anschlossen, wurden entlassen
  • 1987: Ausnahmezustand aufgehoben, Wahlen geplant, Medien erheblich freier als zuvor doch Abhängigkeit, Politisierung, Kontrolle auch während Wandlungsprozess
  • KMT weiterhin dominant und Eigentümer von Presse und Rundfunk
  • Anstieg der Zeitungen und Fernsehstationen –> Überleben vor allem derjenigen, die an politische Akteure angeschlossen sind
  • Bei der Einführung von Kabelfernsehen versuchte KMT aber erfolglos die Anzahl der Sender zu limitieren

Fazit:

Milton hat durch die Identifizierung grundlegender Muster der Medienpolitik in Ländern, die sich in einem demokratischen Wandlungsprozess befinden aufgezeigt, dass die Medien innerhalb dieses Rahmens zwar freier werden, gewisse politische Beschränkungen jedoch bestehen bleiben. Besonders in den Anfangsphasen von Wandlungsprozessen kämpfen politische Akteure um die Hoheit über politische Institutionen und die Prozesse ihrer demokratischen Rekonstruktion mit dem Ziel, diejenigen organisatorischen Ressourcen beizubehalten, durch die sie sich die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen am ehesten erhoffen. Miltons Ansatz ist hilfreich, um die aktuellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer Journalismus in Mittel- und Osteuropa agiert, besser zu verstehen.

An dieser Stelle auch ein Verweis auf sein weiterführendes Buch: Milton, Andrew K. (2000). The rational politician: Exploiting the media in new democracies. Aldershot: Ashgate.

Jessica Ebelt