Angela Merkel sprach kürzlich unter den Eindrücken des G 7-Gipfels und Donald Trumps Auftritten in Sizilien davon, dass Europa sein Schicksal selbst in die Hand nehmen müsse. Ja, in der europäischen Union scheint sich auch über Deutschland und Frankreich hinaus ein allgemeiner Konsens einzustellen, dass man jetzt noch mehr zusammenrücken und mit einer Stimme sprechen müsse.
Und Bundespräsident Steinmeier beantwortet in seiner Rede auf dem evangelischen Kirchentag in Berlin im Angesicht des Postfaktischen oder „einer zunehmenden Aversion gegen Fakten“ seine eigene Frage, ob denn die Vernunft noch zu retten sei mit dem folgenden Satz: „Was anderes soll uns denn retten als Vernunft?“ Recht so, möchte man sagen. Denn das Thema Vernunft und Wissen ist zurück auch in nicht-akademischen Debatten. Man spricht wieder über rationale Gründe, weitsichtige Abwägungen und Einschätzungen, selbst verantwortete Meinungsbildung.
Doch ein Moment an Frank-Walter Steinmeiers Rede ließ aufhorchen: Hier wurde nämlich Luther neben Augustinus, Kant und Freud als Verfechter der Vernunft aufgerufen. Sicher, wir müssen zusammenrücken angesichts der Herausforderungen des Postfaktischen – aber so eng? Das Problem liegt dabei nicht darin, dass sich nicht tatsächlich Verbindungen, Kontinuitäten zwischen den genannten Denkern aufzeigen lassen – hier hat die wissensgeschichtliche Forschung im Gegenteil in den letzten Jahrzehnten viel Neues erkannt. Wir wissen jetzt, dass die Geschichte der Vernunft in Europa und darüber hinaus keine Geschichte einfacher Brüche und Neuanfänge war.
Und trotzdem ist es wichtig, die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Begriffen und Verständnisweisen davon, was Vernunft ist und was sie leisten kann, nicht aufzuheben oder wegen der großen Herausforderungen durch die Unvernunft zu suspendieren. Im Gegenteil: gerade jetzt ist es erforderlich, darüber zu streiten, ob die Art von Rationalität, die Augustinus aufbauend auf einem platonischen Bildungshorizont und unter dem tiefen Eindruck der Rhetorik der Paulus-Briefe präsentiert, dieselbe ist, mit der Immanuel Kant den Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit durch die Vernunft fordert. Das hat auch etwas mit einer an der Sache orientierten Streitkultur zu tun. Wie für so vieles, so hat auch hierfür Platon das anschaulichste Bild entworfen.
In seinem Dialog Menon windet sich Sokrates‘ Hauptgesprächspartner hartnäckig gegen die rationalen Argumente seines Gesprächspartners. Weil er nun trotzdem zugeben muss, dass seine Meinung über die Tugend, von der der Dialog handelt, nicht haltbar ist, beschreibt er Sokrates und seine Gesprächstaktik mit einem Zitterrochen: Denn auch Sokrates versetze denjenigen, der ihm zu nahe komme, in eine Schockstarre, freilich in eine intellektuelle.
Doch Platon zeigt sehr klar: Menon hat keineswegs begriffen, was Sokrates‘ zentrales Argument ist und dass er vor allem dem Mangel an Begründung in den Meinungen des Menon kritisiert. Menon ist immer noch sehr zufrieden mit sich selbst, lobt sich, wie oft er schon, und zwar sehr gut, über die Tugend gesprochen habe. Und als die geduldige „Wissenshebamme“ Sokrates noch einmal von vorne mit ihm beginnen möchte in der Definitionssuche, blockt Menon ab und besteht – ganz wie am allerersten Anfang des Gesprächs – darauf, dass sie sich nun über die Lehrbarkeit der Tugend unterhalten und die ganze lästige Definitionssuche überspringen sollten.
Keine Frage, auch Menon argumentiert im Dialog durchaus rational. Er bringt Begründungen, er führt Beispiele an, er versucht, sich argumentativ durchzusetzen. Aber sein Rationalitätsverständnis ist ein ganz anderes, als das, das Platon seinem Sokrates in den Mund legt. Denn Sokrates geht es darum, einfache Meinungen, die einen Wahrheitsanspruch enthalten, und wirkliches Wissen, von dem der Wissende selbständig, konkret und hinreichend Rechenschaft ablegen kann, voneinander zu unterscheiden. Der mit allen Wassern der sophistischen Rhetorik gewaschene Menon hingegen will im Agon, im Wettstreit der Intellektuellen, als Sieger aus dem Ring gehen. Seine Rationalität ist ein bloßes, manipulierendes und manipulierbares Instrument.
– Was anderes kann uns retten als die Vernunft? Nichts, aber nur dann, wenn wir nicht zu sehr zusammenrücken, sondern darüber streiten, welche Vernunft das zu leisten im Stande ist. Denn viele der Formen von Vernunft und Rationalität, die in der Geschichte des Wissens entworfen wurden, haben gerade die Abneigung gegen das „Vernünfteln“ provoziert, mit der wir heute, allerdings auf einem ganz anderen Niveau, zu kämpfen haben.