Das Interview steht im Mittelpunkt dieses Webprojekts. Unter diesem Menüpunkt findet ihr daher unsere Tipps und Tricks zum Führen eines Interviews, den wir in Checklisten und Praktische Hinweise unterteilt haben.
Der Umgang mit Erinnerungen
Die Methode der Oral History sah sich in ihrer jungen Geschichte zunächst einer starken Kritik seitens der etablierten Geschichtswissenschaften ausgesetzt und auch heute wird diese Praxis neue Quellen zu erschließen immer wieder kritisch betrachtet. In der Auseinandersetzung mit den methodischen Problemen der Oral History kann eine sinnvolle Nutzbarmachung von Interviews für die Geschichtswissenschaften sichergestellt werden.
Wie bei jeder Quelle sollte man auch bei einem Zeitzeug*inneninterview nicht davon ausgehen, eine vollständige Schilderung eines vergangenen Ereignisses zu bekommen. Interviewte vergessen, verdrängen und konstruieren ihre Erfahrungen und Erlebnisse, sie haben in der Zwischenzeit andere Bewertungen zur Kenntnis genommen und in ihre Erinnerung integriert. Auch Vorgespräche, die der*die Interviewer*in mit den Interviewpartner*innen bereits geführt hat, sollten in die Interviewanalyse mit einbezogen werden. Ein Vorgespräch kann bereits dazu führen, dass eine Auswahl getroffen wird, indem Erinnerungen »hervorgeholt«, überdacht, Details für uninteressant, zu privat oder brisant und damit für nicht erzählwürdig bewertet werden. Deswegen muss in der Auswertung des Interviews dem Nicht-Gesagten ebenso Aufmerksamkeit beigemessen werden wie dem Gesagten. Nicht unerheblich sind auch die persönliche und emotionale Verfassung eines*r Interviewten am Tag des Gespräches und der nur allzu menschliche Versuch der erinnernden Person, sich möglichst positiv darzustellen.
Die Interviewsituation selbst ist Teil der Quelle. Nicht die historische Repräsentativität steht beim Zeitzeug*inneninterview im Vordergrund, sondern die Sichtbarmachung der Selbstdeutung des*der Zeitzeug*in.
Maurice Halbwachs stellte in seiner Theorie des kollektiven Gedächtnisses dar, dass die Erinnerung einer Person kein rein individueller Vorgang ist. Das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft bietet als Bild der Vergangenheit einen Rahmen in dem sich individuelle Erfahrung entfaltet. Im kollektiven Gedächtnis kann sich ein Individuum seiner persönlichen Erinnerung vergewissern oder bestehende Lücken schließen. Auch schriftliche Quellen richten sich immer an eine »mehr oder weniger definierte Öffentlichkeit« und auch zeitgenössische Aufzeichnungen sind durch »aktuelle politische Debatten oder durch bestimmte Konventionen geprägt […]. Selbst Briefe oder Tagebücher können durch eine innere oder äußere Zensur geprägt werden.« (Dejung, Christoph: Oral History und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 34. 2008, S.96-115, S.106).
Interview und Auswertung der Erinnerung
Ein Spezifikum der Oral History ist zweifellos, dass im Rahmen eines Interviews Quellen unter dem direkten Einfluss der forschenden Person entstehen – der*die Historiker*in schafft sich durch ein Interview eine eigene Quelle. Schon im Vorfeld des Interviews, nämlich durch die Definition von Forschungsinteressen und Fragenkatalog, nimmt die forschende Person eine Auswahl vor. Sie hat ein spezifisches Interesse an bestimmten Erinnerungen und eine Vorstellung davon, welche Erzählungen relevant sind und welche nicht. Dadurch können Informationen vernachlässigt werden, in denen man keinen Erkenntnisgewinn vermutet, welche aber ebenfalls aufschlussreich sein könnten.
Dem muss man methodisch begegnen. Hilfreich ist es, im Interview einen offenen, lebensgeschichtlichen Gesprächseinstieg zu wählen. Die interviewte Person kann so eigene Themenschwerpunkte setzen und Lebensabschnitte in eine eigene Hierarchie einordnen. Der*die Historiker*in bekommt nicht nur Hinweise zur Selbstverortung der Person, sondern wird evtl. auch auf Lebensabschnitte oder Themen aufmerksam gemacht, denen er*sie vorher weniger Relevanz zugeordnet hatte. Die eigene Erfahrung in der Interviewsituation muss bei der Analyse reflektiert und transparent gemacht werden.