Martin Lenz

Meine Eltern sind zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Kinder aus Pommern und Ostpreußen nach Westdeutschland geflohen. Meine Mutter arbeitete dort als Putzfrau und Verkäuferin, mein Vater als Kraftfahrer. Meine Ambitionen haben sie überrascht; gleichwohl haben sie versucht, mich nach Kräften zu unterstützen. Im Studium und auch danach war ich mir eigentlich keiner besonderen Schwierigkeiten bewusst. Erst viel später wurde mir deutlich, dass ich oft versucht hatte, meine Herkunft zu verbergen, und dass mein Leben auf diese Weise oft mit einer gewissen Scham verbunden war. Als mein akademischer Lehrer einmal darauf hinwies, wie ausgesucht ich gekleidet sei, erschrak ich etwas, weil mir bewusst wurde, wie gut ich mich zu verstellen gelernt hatte – auch vor mir selbst. Zu sehen, wie sehr es andere ermutigen kann, von dieser Scham und anderen Schwierigkeiten zu wissen, hat mich ermuntert, meine Erfahrungen gelegentlich zu thematisieren. So bin ich gut mit meinem „inneren Studenten“ in Kontakt geblieben und hole ihn gern hervor, um bestimmte Probleme zu verstehen und anzugehen. Einerseits ist mir vielleicht gerade deshalb heute klar, wie viel ich persönlich der demokratischen Bildungsorientierung in den 70er Jahren verdanke. Andererseits ist es erschreckend zu sehen, wie sehr diese Orientierung inzwischen politisch bekämpft wird. In diesem Sinne erscheint die noch immer behauptete meritokratische Ausrichtung  in der akademischen Welt als ein toxisches Feigenblatt. Gerade für die Philosophie ist es essentiell, eine demokratische und pluralistische Bildungsorientierung zurückzugewinnen. Deshalb versuche ich, diese Themen in meinem Blog (https://handlingideas.blog/tag/meritocracy/) und durch aktive Arbeit in der Gewerkschaft (https://organizetherug.wordpress.com/) präsent zu halten. Wenn es also eine Erfahrung gibt, die ich in besonderer Weise mit meinem Hintergrund verbinde, so ist es die: Akademische Arbeit zu fördern verlangt, in Solidarität statt Konkurrenz zu leben. 

Martin Lenz ist Professor für Philosophiegeschichte an der Universität Groningen. 

Elif Özmen

Ich bin in der schönen Hansestadt Bremen geboren und in einer kleinen, mit Büchern vollgestopften Mietwohnung aufgewachsen. Meinen soziokulturellen Hintergrund würde ich als bildungsverliebt beschreiben: Kultur, Bildung und die Künste gelten in meiner Familie als Eigenwert, aber auch als Kapital für die Persönlichkeitsentwicklung und Lebensführung. Felsefe (Philosophie) als Beruf stellt gewissermaßen die Vollendung dieses überaus bürgerlichen Ideals dar.

Quer dazu steht unsere Migrationsgeschichte und die damit verbundenen biographischen Zäsuren und persönlichen Herausforderungen. Ich bin ein sogenanntes Gastarbeiterkind; meine Eltern sind im Rahmen des Anwerbeabkommen mit der Türkei in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik migriert. Damit war der Traum vom Studium für beide erledigt und wurde anstandslos ersetzt durch einen anderen Traum vom guten Leben in Deutschland (und ab Mitte der 1990er Jahre auch als Deutsche).

Dass ich „die kleine Türkin“ sei, habe ich das erste Mal in der Grundschule vernommen, aber auch als Professorin unter Kollegen ist es mir schon passiert, dass sich jemand verwundert über meine Akzentlosigkeit oder den „komischen Namen“ zeigt. Ich versuche damit genauso hart, herzlich oder ignorant umzugehen, wie mit den Mühsalen und Widerständen, die die akademische Karriere, gerade auch in der Philosophie, für uns Frauen bereithält.

Eigentlich glaube ich, dass mein eher dickes Fell und mein Hang zu Widerrede, Trotz und freundlicher Beharrlichkeit auch meinem familiären Hintergrund geschuldet ist. Immerhin sind meine Eltern als junge Menschen in ein gänzlich fremdes Land aufgebrochen und dort allen Widrigkeiten zum Trotz heimisch geworden. Dazu gehören Mut, Selbstvertrauen und die Hoffnung, es schaffen zu können. Über dieses positive Erbe der sons and daughters of Gastarbeiter wird viel zu selten gesprochen.

In finanzieller Hinsicht war mir von Beginn meines Studiums über alle Qualifikationsstufen bis zur ersten Ruferteilung klar, dass ich keine längere Zeit ohne gesicherte Finanzierung durch Stipendien und akademische Stellen durchhalten könnte, einfach weil die finanziellen Polster und familiären Rücklagen fehlten. Das bedeutet für die ohnehin schon prekären Verhältnisse des Nachwuchses, die durch #IchBinHanna gegenwärtig viel Aufmerksamkeit erfahren, noch eine zusätzliche Beschwernis. Dass so wenige Nichtakademikerkinder promovieren und noch weniger den Sprung zur Professur schaffen, hat eben auch was damit zu tun, dass man sich Wissenschaft als Berufsziel leisten können muss.

Ich weiß nicht, ob diese persönliche Geschichte von Philosophie in erster Generation mit besonderen Einsichten oder Perspektiven einhergeht. Für die Wahl der Themen und Probleme, die mich philosophisch beschäftigen, spielt es eher keine Rolle. Im Umgang mit Studierenden und Mitarbeiter:innen glaube (hoffe) ich, dass ich aufmerksam und vor allem ansprechbar bin auch für Fragen und Probleme, die nicht fachwissenschaftlicher Natur sind, aber den Studienerfolg und das akademische Vorankommen gleichwohl beeinflussen können. Die Frage nach der Finanzierung ist zum Beispiel einerseits ziemlich persönlich, aber ich stelle sie bei auffällig klugen und motivierten Studierenden dann doch, um herauszufinden, ob und in welcher Weise eine Unterstützung ermöglicht werden kann. Mir scheint, dass ich auch etwas weniger empfänglich bin für die Autorität des professoralen Habitus, der einem ja immer noch regelmäßig begegnet in Fachbereichssitzungen, Berufungskommissionen oder Vortragsdiskussionen. Es hat eben auch Vorteile, wenn man diesem Gehabe, gerade weil man es nicht von Hause aus beherrscht, distanziert gegenüberstehen kann.

Elif Özmen ist Professorin für praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Andreas Hüttemann

Wie würdest Du Deinen sozialen Hintergrund beschreiben?

Mein sozialer Hintergrund in Stichworten: Landwirtschaft, vier Generationen unter einem Dach, höchste Bildungsabschlüsse der Eltern: Hauptschule und Realschule; Anzahl Klaviere /Anzahl Museumsbesuche mit Eltern jeweils: 0.

Auch wenn der Hintergrund formal betrachtet bildungsfern war, waren meine Eltern überzeugt, Bildung führe zu sozialem Aufstieg. Die Kinder, die nicht den Hof übernehmen, sollten daher idealerweise studieren. Da es BAFöG gab, stand – trotz Geldferne – nie in Frage, dass sich das auch realisieren lässt. 

Was waren für Dich besondere Schwierigkeiten, die mit Deinem Hintergrund zu tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?

Ich habe (anders als andere, mit denen ich darüber gesprochen habe) keine besonderen Schwierigkeiten erlebt, die mit meinem Hintergrund zusammenhingen und habe mich gefragt woran das lag. Meine vorläufige Antwort: Einem guten Schüler/einer guten Schülerin gegenüber verhalten sich selbst die Lehrer/innen, die auch anders können, meistens freundlich (entsprechend auch an der Universität). Die guten Noten übertrumpfen den Hintergrund. Wahrgenommen wurde er durchaus. Als mich die Schulleiterin für die Studienstiftung vorschlug, gab sie mir noch den Ratschlag, im Falle eines Interviews auf „watt“ und „datt“ zu verzichten und lieber „das“ und „was“ zu verwenden. Durch die guten Noten wurde der einfache Hintergrund nicht zu einem Nachteil, sondern zu einem charmanten Feature. 

Was hat Dir dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?

Zu studieren, wenn die Eltern Akademiker sind, ist ja nichts Besonderes, mit einfachem Hintergrund schon eher. Den einfachen Hintergrund habe ich nicht als Makel empfunden oder mir als solchen einreden lassen, eher war ich stolz darauf, einen eigenen Weg zu gehen. 

Gibt es besondere Einsichten oder Perspektiven, die Du Deinem Hintergrund verdankst und die für Deine philosophische Forschung oder Lehre von besonderem Wert sind?

Vielleicht hat mich die analytische Philosophie, in der es – zumindest ihrem Selbstverständnis nach – um Argumente geht, in meiner Studienzeit in Heidelberg mehr als z. B. die hermeneutische Tradition angesprochen, in der kulturelles Kapital eine größere Rolle spielte.

Andreas Hüttemann ist Professor für theoretische Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität zu Köln.

Christian Neuhäuser

Mein Familienhintergrund entspricht einer klassischen Arbeiterfamilie. Meine Mutter ist ausgebildete Friseurin, mein Vater Werkzeugmacher. Die Großeltern waren Kleinbauern und Fabrikarbeiter. Formale Bildung spielt in solch einer Familie keine besondere Rolle; was zählte, waren eher Lebenserfahrung und -weisheit. Einzig meine Mutter hat ihren Kindern die Möglichkeiten einer Schulbildung nahegebracht. Sie selbst war von ihren Lehrern für eine höhere Schulbildung vorgeschlagen worden, was ihr von der Familie jedoch verwehrt wurde, weil sie möglichst früh zum Familieneinkommen beitragen sollte.

Auch mein eigener Bildungsweg ist nicht unbelastet. Bereits in der ersten Klasse war ich mit einer sehr deutlichen Ablehnung meiner Klassenlehrerin konfrontiert. Im Nachhinein lege ich mir dies so zurecht, dass sie mich einfach nicht einschätzen konnte. Auf der einen Seite war ich in formaler Hinsicht unterentwickelt, etwa was meinen Sprachduktus oder mathematischen Fähigkeiten angeht. Auf der anderen Seite war ich aufgeweckt und selbstbewusst. Allein der Widerstand meiner Mutter und die Intervention eines anderen Lehrers haben verhindert, dass ich auf eine damals Sonderschule genannte Förderschule geschickt wurde.

Diese Dynamik hat im Grunde meinen gesamten Bildungsweg durchzogen. Realschulempfehlung nach der Orientierungsstufe; Sitzenbleiben in der achten Klasse; Lehrer:innen, die mir die Abitureignung abgesprochen haben; Ablehnung durch Kommiliton:innen und Dozent:innen im Studium; professorales Unverständnis für meinen Wunsch zu promovieren; bescheinigte Aussichtlosigkeit einer wissenschaftlichen Karriere, geschweige denn was den Erhalt einer eigenen Professur anbelangt. Auf der anderen Seite gab es aber auch immer Befürworter:innen, die mir den Rücken gestärkt und mich ermutigt haben, auf diese Vorurteile nichts zu geben. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft, den Job zu ergreifen, der mir so viel Freude bringt. Ich hätte es nicht einmal gewagt, es zu versuchen.

Ich denke, dass ich für die eine Gruppe von Akteuren einfach nicht in bildungsbürgerliche Schemata gepasst habe und sie mich deswegen abgelehnt und versucht haben, mich auszugrenzen. Zumindest haben sie mir nicht besonders viel Aufmerksamkeit oder Wohlwollen geschenkt. Eine andere, freilich deutlich kleinere Gruppe hat mich jedoch als individuelle Persönlichkeit gesehen, die damit verbundenen Widersprüche, Unsicherheiten und Ängste erkannt und mich entsprechend gefördert.

Letztlich hat mir diese Bildungsgeschichte immerhin schon früh die Möglichkeit gegeben zu lernen, in verschiedenen Welten zu leben. Der radikale Wechsel der sozialen Schicht durch den Schritt „vom Arbeiterkind zum Professor“, wie es so schön heißt, ist nämlich tatsächlich ein radikaler Wechsel der Lebenswelt. Gut an dieser Erfahrung ist, dass ich gelernt habe, soziale Konventionen als solche zuerkennen und verschiedene Rollen zu spielen. Nicht so gut daran ist, dass zumindest ich doch rechthäufig das Gefühl habe, nie so richtig in der neuen Welt angekommen zu sein. Das liegt auch daran, so glaube ich, dass diejenigen, für die diese Lebenswelt ganz selbstverständlich ist, zumeist kaum verstehen, wie wenig sie das in Wahrheit ist. Leider tragen sie damit mehr oder weniger bewusst zu bestehenden Strukturen der Exklusion und zu Formen des „Othering“ bei, wie ich immer wieder erleben musste und muss.

Christian Neuhäuser ist Professor für Praktische Philosophie an der TU Dortmund.

Willkommen!

Auf dieser Seite dreht sich alles um #FirstGenPhilosophers: Philosoph:innen mit nicht-akademischem (familiären) Hintergrund. Dies soll als Plattform dienen für all die verschiedenen Erfahrungen, Meinungen und Vorstellungen Philosophierender erster Generation. Von diversen Perspektiven profitiert nicht nur die Philosophie, sondern auch die Debatte rund um Bildungsgerechtigkeit.

Die Debatte lebt auch davon, dass Sie Teil davon werden. Wenn Sie selbst Philosoph:in erster Generation sind, welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Welchen Einfluss hat ihr familiärer Hintergrund auf Ihren philosophischen und akademischen Werdegang gehabt? Gibt es aus Ihrer Sicht spezifisch philosophische Gründe dafür, Erstakademiker:innen speziell zu fördern und einzubeziehen – und wie kann oder soll das geschehen?

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