Meine Eltern sind zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Kinder aus Pommern und Ostpreußen nach Westdeutschland geflohen. Meine Mutter arbeitete dort als Putzfrau und Verkäuferin, mein Vater als Kraftfahrer. Meine Ambitionen haben sie überrascht; gleichwohl haben sie versucht, mich nach Kräften zu unterstützen. Im Studium und auch danach war ich mir eigentlich keiner besonderen Schwierigkeiten bewusst. Erst viel später wurde mir deutlich, dass ich oft versucht hatte, meine Herkunft zu verbergen, und dass mein Leben auf diese Weise oft mit einer gewissen Scham verbunden war. Als mein akademischer Lehrer einmal darauf hinwies, wie ausgesucht ich gekleidet sei, erschrak ich etwas, weil mir bewusst wurde, wie gut ich mich zu verstellen gelernt hatte – auch vor mir selbst. Zu sehen, wie sehr es andere ermutigen kann, von dieser Scham und anderen Schwierigkeiten zu wissen, hat mich ermuntert, meine Erfahrungen gelegentlich zu thematisieren. So bin ich gut mit meinem „inneren Studenten“ in Kontakt geblieben und hole ihn gern hervor, um bestimmte Probleme zu verstehen und anzugehen. Einerseits ist mir vielleicht gerade deshalb heute klar, wie viel ich persönlich der demokratischen Bildungsorientierung in den 70er Jahren verdanke. Andererseits ist es erschreckend zu sehen, wie sehr diese Orientierung inzwischen politisch bekämpft wird. In diesem Sinne erscheint die noch immer behauptete meritokratische Ausrichtung in der akademischen Welt als ein toxisches Feigenblatt. Gerade für die Philosophie ist es essentiell, eine demokratische und pluralistische Bildungsorientierung zurückzugewinnen. Deshalb versuche ich, diese Themen in meinem Blog (https://handlingideas.blog/tag/meritocracy/) und durch aktive Arbeit in der Gewerkschaft (https://organizetherug.wordpress.com/) präsent zu halten. Wenn es also eine Erfahrung gibt, die ich in besonderer Weise mit meinem Hintergrund verbinde, so ist es die: Akademische Arbeit zu fördern verlangt, in Solidarität statt Konkurrenz zu leben.
Martin Lenz ist Professor für Philosophiegeschichte an der Universität Groningen.