Christian Neuhäuser

Mein Familienhintergrund entspricht einer klassischen Arbeiterfamilie. Meine Mutter ist ausgebildete Friseurin, mein Vater Werkzeugmacher. Die Großeltern waren Kleinbauern und Fabrikarbeiter. Formale Bildung spielt in solch einer Familie keine besondere Rolle; was zählte, waren eher Lebenserfahrung und -weisheit. Einzig meine Mutter hat ihren Kindern die Möglichkeiten einer Schulbildung nahegebracht. Sie selbst war von ihren Lehrern für eine höhere Schulbildung vorgeschlagen worden, was ihr von der Familie jedoch verwehrt wurde, weil sie möglichst früh zum Familieneinkommen beitragen sollte.

Auch mein eigener Bildungsweg ist nicht unbelastet. Bereits in der ersten Klasse war ich mit einer sehr deutlichen Ablehnung meiner Klassenlehrerin konfrontiert. Im Nachhinein lege ich mir dies so zurecht, dass sie mich einfach nicht einschätzen konnte. Auf der einen Seite war ich in formaler Hinsicht unterentwickelt, etwa was meinen Sprachduktus oder mathematischen Fähigkeiten angeht. Auf der anderen Seite war ich aufgeweckt und selbstbewusst. Allein der Widerstand meiner Mutter und die Intervention eines anderen Lehrers haben verhindert, dass ich auf eine damals Sonderschule genannte Förderschule geschickt wurde.

Diese Dynamik hat im Grunde meinen gesamten Bildungsweg durchzogen. Realschulempfehlung nach der Orientierungsstufe; Sitzenbleiben in der achten Klasse; Lehrer:innen, die mir die Abitureignung abgesprochen haben; Ablehnung durch Kommiliton:innen und Dozent:innen im Studium; professorales Unverständnis für meinen Wunsch zu promovieren; bescheinigte Aussichtlosigkeit einer wissenschaftlichen Karriere, geschweige denn was den Erhalt einer eigenen Professur anbelangt. Auf der anderen Seite gab es aber auch immer Befürworter:innen, die mir den Rücken gestärkt und mich ermutigt haben, auf diese Vorurteile nichts zu geben. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft, den Job zu ergreifen, der mir so viel Freude bringt. Ich hätte es nicht einmal gewagt, es zu versuchen.

Ich denke, dass ich für die eine Gruppe von Akteuren einfach nicht in bildungsbürgerliche Schemata gepasst habe und sie mich deswegen abgelehnt und versucht haben, mich auszugrenzen. Zumindest haben sie mir nicht besonders viel Aufmerksamkeit oder Wohlwollen geschenkt. Eine andere, freilich deutlich kleinere Gruppe hat mich jedoch als individuelle Persönlichkeit gesehen, die damit verbundenen Widersprüche, Unsicherheiten und Ängste erkannt und mich entsprechend gefördert.

Letztlich hat mir diese Bildungsgeschichte immerhin schon früh die Möglichkeit gegeben zu lernen, in verschiedenen Welten zu leben. Der radikale Wechsel der sozialen Schicht durch den Schritt „vom Arbeiterkind zum Professor“, wie es so schön heißt, ist nämlich tatsächlich ein radikaler Wechsel der Lebenswelt. Gut an dieser Erfahrung ist, dass ich gelernt habe, soziale Konventionen als solche zuerkennen und verschiedene Rollen zu spielen. Nicht so gut daran ist, dass zumindest ich doch rechthäufig das Gefühl habe, nie so richtig in der neuen Welt angekommen zu sein. Das liegt auch daran, so glaube ich, dass diejenigen, für die diese Lebenswelt ganz selbstverständlich ist, zumeist kaum verstehen, wie wenig sie das in Wahrheit ist. Leider tragen sie damit mehr oder weniger bewusst zu bestehenden Strukturen der Exklusion und zu Formen des „Othering“ bei, wie ich immer wieder erleben musste und muss.

Christian Neuhäuser ist Professor für Praktische Philosophie an der TU Dortmund.

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