杀马特我爱你 – We Were Smart (von Melanie Höschele)

Leben und Wandel (in) einer chinesischen Subkultur

Die Dokumentation „杀马特我爱你“ (shāmǎtèwǒàinǐ, „We Were Smart“) aus dem Jahr 2019 befasst sich mit der gesellschaftlich umstrittenen Subkultur der sogenannten 杀马特 (shāmǎtè, im Folgenden: Shamate), die in China in den 2000er Jahren von jugendlichen FabrikarbeiterInnen geprägt wurde und sich durch einen auffallenden Haar- und Kleidungsstil auszeichnet. Der chinesische Regisseur 李一凡 (lǐyīfán, im Folgenden: Li Yifan) beleuchtet hierbei die Lebenswege der Mitglieder dieser Subkultur, die vorwiegend aus ländlichen Regionen in Chinas Westen stammen und zu prekären Löhnen und Arbeitsbedingungen in städtischen Fabriken, beispielsweise in der Elektronikherstellung, oder im Bausektor arbeiten. Damit schließt sich der Film an Li Yifans bisherige Werke „淹没“ (yānmò, „Yan Mo – Before the flood“, 2005) und „乡村档案“ (xiāngcūndàngàn, „Chronicle of Longwang“, 2009) an, die ebenfalls die Lebenssituation der ländlichen Bevölkerung Chinas in den Fokus rücken.

Der Name Shamate, der sowohl als Bezeichnung für die Subkultur selbst als auch für deren Mitglieder genutzt wird, basiert auf einer Transliteration des englischen Wortes „smart“ ins Chinesische und wurde zu einer Eigenbezeichnung in Online-Communities. Das markanteste Merkmal der Shamate sind ihre Haare, die bunt gefärbt und durch viel Haarspray zu möglichst großen, auffälligen Frisuren gestylt werden, wie auch auf dem Filmplakat zu sehen ist. Ergänzt wird der charakteristische Stil durch ebenfalls extravagante Kleidung und erinnert so insgesamt äußerlich an Subkulturen wie die Punkbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Die Dokumentation vermittelt Eindrücke über die individuellen Geschichten dieser jungen Menschen, die in der Shamate-Bewegung Gemeinschaft und Identität finden, während sie den harten Arbeitsalltag in den Fabriken bewältigen. Gleichzeitig beschreibt der Film den Niedergang dieser Subkultur und ihre Marginalisierung innerhalb der chinesischen Gesellschaft.

Ich habe die mit englischen Untertiteln versehene Version der Dokumentation im Rahmen des Seminars „Kontinuität und Wandel in der chinesischen Armutsminderung“ im Sommersemester 2023 gesehen. Eingehend diskutiert wurde die Dokumentation im Kontext der Stadt-Land-Ungleichheit in China im Zusammenhang mit Armut unter WanderarbeiterInnen, die aus den ländlichen Gebieten Chinas in die Städte ziehen, um dort Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden und der ländlichen Armut zu entkommen. Daher bestand meine Erwartungshaltung an den Film darin, mehr über die Lebensrealität von jungen ArbeiterInnen in Chinas Städten und ihren Umgang mit einem Leben in Armut zu erfahren.

Das Schicksal jugendlicher FabrikarbeiterInnen aus dem ländlichen China

Inhaltlich lässt sich die Dokumentation grob in drei Abschnitte unterteilen. Im ersten Drittel werden der Lebensweg und die Arbeitssituation der jugendlichen FabrikarbeiterInnen beleuchtet. Zentral für das Erleben der jungen Menschen sind das Aufwachsen in ländlicher Armut, die langen, monotonen Arbeitstage unter schlechten Arbeitsbedingungen in den Fabriken sowie Gefühle von Einsamkeit und Unsicherheit. Es wird deutlich, dass das Internet und die Communities der Shamate als ein Zufluchtsort und als Chance betrachtet werden, sich eine Identität zu bilden.

Die Shamate-Kultur wird im zweiten Drittel der Dokumentation facettenreich betrachtet. Dabei werden Treffpunkte, der charakteristische Haar- und Kleidungsstil sowie Online-Communities detailliert beschrieben und es wird deutlich, wie die Subkultur unter ihren Mitgliedern ein Gefühl von gegenseitigem Verständnis und familiärer Zusammengehörigkeit erzeugt. Gleichzeitig werden auch Schwierigkeiten beleuchtet, wie zum Beispiel die Unvereinbarkeit von der Teilnahme an Treffen mit langen Arbeitszeiten oder die auffällige äußere Erscheinung als ein Hindernis bei der Arbeitssuche. Hier wird der Konflikt zwischen dem Wunsch, ein selbstgewähltes, freies Leben zu führen, und der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, um die eigene Existenz zu sichern, klar herausgearbeitet.

Im letzten Drittel der Dokumentation wird beschrieben, wie die Shamate-Communities zum Großteil zerschlagen wurden und wie sich die Subkultur heutzutage in kleinerem Rahmen und besonders im Internet in Form von Livestreaming fortsetzt. Es wird auf die Erfahrungen von gesellschaftlicher Abwertung eingegangen, aber auch darauf, wie das Leben der Jugendlichen sich entwickelt hat und welche Wünsche und Träume sie für die Zukunft haben.

Die in der Dokumentation behandelten Themen haben eine große aktuelle Relevanz und gehen weit über eine reine Betrachtung der Subkultur hinaus. Die Stadt-Land-Ungleichheit und Armut von ländlichen WanderarbeiterInnen sind wichtige Themen, die sowohl in chinesischen als auch internationalen wissenschaftlichen Artikeln und Medien große Aufmerksamkeit erfahren. Aber auch andere sehr relevante gesellschaftliche Themen werden in der Dokumentation angesprochen. Beispielsweise wird auf das Ungleichgewicht des Geschlechterverhältnisses in Folge der Ein-Kind-Politik und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der PartnerInnensuche eingegangen. Ein weiteres Thema ist die Bildungs- und Lebenssituation der auf dem Land zurückgelassenen Kinder, die häufig ohne Eltern aufwachsen, da diese in den Städten in Fabriken arbeiten. Hinzu kommen die Problematik der Kinderarbeit und die häufig schlechten Arbeitsbedingungen in den Fabriken hinsichtlich Arbeitssicherheit sowie die Unsicherheit, ob überhaupt Lohn ausgezahlt wird.

Beurteilung der filmischen Gestaltung

Die Dokumentation basiert hauptsächlich auf Interviews, die mit über 40 aktuellen oder ehemaligen Mitgliedern der Shamate-Subkultur aufgezeichnet wurden. Ergänzt werden diese Aufnahmen durch Handyaufnahmen aus Fabriken, Foto und Videomaterial, welches aus den sozialen Netzwerken stammt bzw. von den interviewten Personen zur Verfügung gestellt wurde, sowie aktuelle Videoaufnahmen der zentralen Treffpunkte der Shamate.

Insgesamt wirkt das Videomaterial, insbesondere die Aufnahmen aus den Fabriken, auf den ersten Blick sehr einfach und größtenteils in der Qualität niedriger als man es von Dokumentationen üblicherweise gewohnt ist. Eine Erklärung, die in der Dokumentation selbst nicht zu finden ist, liefert Regisseur Li Yifan in einer Rede auf yixi.tv, einer Medienplattform, die regelmäßig Präsentationen und Reden zu verschiedenen Themen veröffentlicht. Im Kontext von Schwierigkeiten und Herausforderungen bei der Produktion der Dokumentation berichtet er, dass es nicht möglich war, in den Fabriken Aufnahmen zu machen bzw. er die Befürchtung hatte, dass die Fabriksituation für den Dreh geschönt werden würde. Daher rief das Filmteam online zu einem Videowettbewerb auf: Die ArbeiterInnen sollten Videos von ihrer Arbeit in der Fabrik drehen und für einen Geldpreis einsenden. Insgesamt wurden so 915 Videos abgekauft und bildeten anschließend die Grundlage für die Dokumentation. Dadurch wirkt die Qualität der Aufnahmen zwar ungewöhnlich niedrig, im Gegenzug sind die Aufnahmen jedoch sehr authentisch.

Auch die Interviews sind im realen Lebensumfeld der ProtagonistInnen gedreht wie beispielsweise der eigenen kleinen Wohnung im Arbeitsviertel oder in der ländlichen Heimat, sodass man im Hintergrund Lärm aus der Nachbarwohnung hört oder Nutztiere und Felder sehen kann. Meiner Meinung nach wirken die Aufnahmen dadurch ebenfalls sehr authentisch und bilden die Lebenssituation zum Greifen nah nach, auch wenn die Tonqualität teilweise darunter leidet.

Alles in allem arbeitet der Film mit wenigen Effekten durch Musik, Schnitttechnik etc., sondern fokussiert sich auf eine nüchterne Erzählweise und versucht die Inhalte komplett aus der Perspektive der Shamate darzustellen. Die ZuschauerInnen werden während des Films nur wenig geleitet. So gibt es zum Beispiel keinen Einsatz von Voice-Over durch einen Erzähler, der den Betrachtenden Erklärungen geben könnte. Die einzigen strukturierenden Elemente, die in der Version mit englischen Untertiteln zum Einsatz kommen, sind gelegentliche Texteinblendungen, die im Stil an Internetforen der 2000er Jahre mit schwarzem Hintergrund und knallbuntem Text angelehnt sind. So wird am Anfang kurz der Hintergrund der Shamate-Communities erläutert und am Ende ein Fazit gezogen. Innerhalb des Filmes werden einzelne Aspekte beispielsweise die im Internet kursierenden Parodien der Shamate und die darauffolgende Zerschlagung der Communities kommentiert. In diesen Texteinblendungen wird oft ein gesellschaftliches Problem herausgestellt und zu diesem eine klare Position bezogen.

Die geringe Strukturierung ist meiner Meinung nach ein Kritikpunkt, den man bei dem Film anbringen könnte, da die Erzählstruktur teilweise nicht ganz klar ist und gelegentlich Fragen offenbleiben, wie zum Beispiel aus welcher Zeit und Quelle gezeigte Aufnahmen stammen. Auf der anderen Seite finde ich persönlich diese Wahl der Narration dennoch sehr passend, da sie so die ProtagonistInnen komplett in den Vordergrund stellt und die Geschichten wirklich aus ihrer eigenen Perspektive erzählen lässt.

Insgesamt unterstützt die Wahl der filmischen Mittel und der Erzählstruktur die Botschaft des Filmes sehr gut. Die präsentierten Informationen stammen alle aus erster Hand der beteiligten Personen und sind dadurch sehr authentisch und glaubwürdig. Die Dokumentation schafft es so, dass die Subkultur der Shamate von ihnen selbst erläutert wird und gleichzeitig klar auf gesellschaftliche Probleme hinzuweisen.

Persönlicher Eindruck und Fazit

Mein persönlicher Eindruck von der Dokumentation ist sehr positiv, da sie auf sehr emotionale Weise ein authentisches Bild der Shamate-Subkultur darstellt und es gleichzeitig schafft, gesellschaftlich relevante Themen wie Armut, Identitätssuche und Marginalisierung herauszustellen. Der Begriff 杀马特 hat sich in China zu einem Ausdruck entwickelt, der genutzt wird, um extravagant gekleidete oder übertrieben gestylte Menschen zu beschreiben, unabhängig davon, ob diese Personen wirklich der Shamate-Subkultur angehören oder nicht. Der Ausdruck wird dabei nicht selten mit einer abwertenden Konnotation oder als Beleidigung verwendet, was zeigt wie verbreitet die Marginalisierung dieser Subkultur auch Jahre nach ihrem Verschwinden noch ist. Vor diesem Hintergrund leistet die Dokumentation meiner Meinung nach einen wertvollen Beitrag, indem sie die Shamate selbst zu Wort kommen lässt und so auf respektvolle Weise ein neues Verständnis für die vorurteilsbehaftete Gruppe ermöglicht. Besonders das Ende der Dokumentation hat mich sehr berührt und nachdenklich gemacht. An vielen Stellen hat mich die Shamate-Subkultur zudem an die ungefähr zeitgleich in Europa und den USA populäre Emo-Subkultur erinnert und es war sehr interessant, hier Parallelen aber auch Unterschiede zu erkennen.

Aus diesen Gründen ist die Dokumentation aus meiner Sicht sehr sehenswert, da sie authentisch eine sehr spannende Subkultur in China betrachtet, auf gesellschaftlich relevante Probleme aufmerksam macht und dabei die Perspektive der Shamate in den Vordergrund rückt.

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Dieser Text ist Teil einer Reihe von studentischen Beiträgen aus unserem MA-Studiengang Chinastudien. Dieser Beitrag wurde im Rahmen eines Seminars über die Kontinuität und den Wandel der Armut(sreduktion) in der Ming-Dynastie und der Volksrepublik China verfasst.

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