Eine studentische Perspektive

In erster Generation zu studieren, kann sich auf unterschiedliche Weise äußern.

Viele Studierende aus nicht-akademischen Familien beschreiben eine ambivalente Erfahrung. Zum einen fühlen sich viele auf eine intellektuelle Art in der Universität sehr wohl, zum anderen ist da dieses seltsame Gefühl, man könnte “auffliegen”: Eigentlich gehöre man ja nicht wirklich hierher, und alle anderen wissen das auch. Alle können es sehen und alle können es hören. Und gleichzeitig bewegt man sich auch in einer selbst auferlegten Unsichtbarkeit. Man soll oder darf nicht gesehen werden, man darf nicht auffallen.

Das erste Thema, das viele Studierende der ersten Generation in Bezug auf ihre Erfahrung nennen, ist Geld. Geld spielt eine bedeutende Rolle darin, ob eine Person studieren kann oder nicht. Viele von uns sind mit permanenten finanziellen Sorgen beschäftigt. Ein nicht zu unterschätzender Teil unserer Zeit und Kraft (die wir lieber in unser Studium stecken würden) wenden wir für Anträge, Ämter und Jobs auf. Einige berichten von der Angst vor dem Bafög-Amt und der Scham, den eigenen Eltern für wichtige Unterlagen hinterherrennen zu müssen. Dies ist besonders schwierig bei einem schlechten Verhältnis zu den Eltern, die einem wortwörtlich einen Strich durch die Rechnung machen können. Selbst wenn man trotz Informationsmangel zur Studienfinanzierung das Privileg eines Stipendiums genießt: Jegliche finanzielle Unterstützung ist daran gekoppelt, in der Regelstudienzeit abzuschließen. Diese Erwartung und eine allgemeine Leistungslogik führen zu einem sehr angespannten Verhältnis zum eigenen Studium. Die Freiheiten und Leichtigkeiten, von denen viele Studierende und Alumni schwärmen, scheint nur finanziell besser situierten Personen vorbehalten. Auch die Möglichkeit, (unbezahlte) Praktika für Berufseinstiegschancen wahrzunehmen, ist uns durch eine prekäre finanzielle Lage (und einen Mangel an Kontakten) häufig verwehrt. In der Lohnarbeit sieht es nicht besser aus: Vielen jobben in der Gastro und im Einzelhandel, um über die Runden zu kommen. Irgendwann scheint es unmöglich, die Branche zu wechseln. Viele von uns können es sich schlichtweg nicht leisten, “picky” zu sein: Man nimmt, was man kriegt. Diese Prekarität nimmt nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Uni Raum ein. Seminare oder Vorlesungen zu schwänzen oder die Eigenarbeit in der Bibliothek abzubrechen, um bei der Arbeit einspringen, sind keine Seltenheit. Angebote rund um Informationen zur Studienfinanzierung, transparente Stellenausschreibungen an der Uni, und die Möglichkeiten zum Austausch nennen viele als Positivbeispiele für das Angehen dieser Probleme.

Während die materiellen Erfahrungen im Austausch sehr ähnlich waren, sind die Erlebnisse in Bezug auf Zugehörigkeit etwas unterschiedlicher. Einige berichten, teilweise in der Universität eher überfordert gewesen zu sein, andere konnten sich inhaltlich schnell einleben. Doch egal wie aktiv oder passiv man sich in Seminaren und Vorlesungen zeigt: Viele beschreiben ständige Selbstzweifel. Jede Hausarbeit birgt das aufkommende Schamgefühl, dass die eigenen Texte nicht gut genug sind. Es scheint, dass Personen mit akademischem Hintergrund eine ganz andere Art von Selbstbewusstsein „zu Hause“ vermittelt bekommen haben. Für viele Akademiker:innenkinder wirkt es selbstverständlich, an der Universität zu sein, während sich viele in der Ersten Generation ständig hinterfragen.

Geprägt von einem meritokratischen Weltbild, das auch in der Schule vermittelt wird, sind viele Studierende zu einer Überkompensation verleitet. Um dasselbe zu erreichen wie andere Studierende, müssen wir sehr viel mehr leisten. Dabei stellt die finanzielle Lage eine Doppelbelastung dar. Die Vorstellung, dass jede:r des eigenen Glückes Schmied:in ist, mag manche auf den ersten Blick ermächtigen. In der Praxis führt es dazu, dass viele von uns unerreichbare Erwartungshaltungen an uns selbst setzen. Für viele wird es zum Ziel, Bestleistungen zu erbringen, um den Platz an der Universität zu “verdienen”, um so zu glänzen, dass keine Person einem den Hintergrund ansehen kann. Der Fokus rückt damit nur auf eine individuelle Leistung. Damit wird verkannt, dass der Unterschied zwischen Studierenden mit und ohne akademischen Hintergrund zum größten Teil auf Erbe basiert, sei es bzgl. Bildung, Kultur oder in monetärer Hinsicht. Um Bildungsgerechtigkeit zu erreichen, müssen diese Unverhältnismäßigkeiten aufgebrochen werden.

Im Austausch mit anderen Studierenden wird klar: Wir sind nicht allein. Wir gehören hierher. Und wir können die Strukturen gemeinsam angehen.

Dieser Beitrag setzt sich aus den Erfahrungen einiger Studierender der Freien Universität Berlin zusammen.

Max Rosenbaum

Wie würdest Du Deinen sozialen Hintergrund beschreiben?

Ich wuchs nur kurze Zeit in der DDR auf und bin dann als Flüchtlingskind in der BRD groß geworden. Nachdem meine Eltern (beide damals Schriftsetzer) und ich aus der DDR übergesiedelt und sie dafür längere Zeit inhaftiert waren, ließen sie sich scheiden. Ich wuchs dann bei meiner Mutter auf und hatte nur wenig Kontakt zu meinem Vater. Das Viertel, in dem ich aufwuchs, war ein multikulturelles Arbeiterviertel, in dem niemand große Sprünge machen konnte. Bei den meisten meiner Bekannten stand schon fest, dass sie den Weg ihrer Eltern übernehmen würden. Meine Mutter und ich waren dort aber auch diejenigen, die fast obdachlos wurden, weil es eben ständig an Geld fehlte. Dennoch hat meine Mutter meine Neugier am Lernen immer unterstützt und mir auch klar gemacht, dass, wenn meine Noten auch mal schlecht sein sollten, ich keine Angst davor haben sollte, sie ihr zu zeigen. Denn ich würde nicht für sie lernen, sondern für mich selbst. Somit wurde ich auch der erste in meiner Familie, der ein abgeschlossenes Studium vorweisen konnte.

Was waren für Dich besondere Schwierigkeiten, die mit Deinem Hintergrund zu tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?

Mir fallen zwei Beispiele ein, die ein wenig aufeinander fußen und sehr prägend waren.

Am Ende der Orientierungsstufe erhielt ich das Prädikat „Geeignet für Hauptschule“. Nachdem ich dann das dritte Mal umzog, probierte ich es dennoch an einer Realschule, wo mir von Anfang an ganz klar gesagt wurde, dass es Kinder mit einer Hauptschulempfehlung hier so oder so nicht schaffen würden. Seltsamerweise hatte ich in allen Fächern durchschnittlich gute Leistung, bis auf die drei Hauptfächer Deutsch, Mathe und Englisch. Nach einem Jahr wechselte ich dann die Schule, weil ich dadurch nicht in die nächsthöhere Klasse kam, so wie es „prophezeit“ wurde.

Später wollte ich dann Abitur machen. Der Oberstufenleiter riet mir davon ab, schließlich kannte er meinen Werdegang. Er rief sogar meine Mutter auf Arbeit an, um ihr zu sagen, dass sie mir das doch bitte ausreden solle, weil meine Noten nicht so aussahen, als würde ich den erweiterten Realschulabschluss und überhaupt das Abitur schaffen.  Als ich dann mein Abitur in der Tasche hatte, kam er zu mir und entschuldigte sich bei mir, weil er wirklich gedacht hatte, dass ich es nicht schaffen würde. Das war zwar eine nette Geste, dennoch war es wahrscheinlich steiniger, als es hätte sein müssen. Das waren für mich nicht nur Schwierigkeiten, sondern ich hatte an mehreren Stellen aktiven und harten Gegenwind, den man teilweise nur extrem schwer aushalten konnte. Andererseits denke ich, wenn ich diesen harten Weg nicht gehabt hätte, wäre ich vielleicht nicht zur Philosophie gelangt.

Was hat Dir dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?

Ich denke, hierbei hat mir die Mischung aus zwei Denkweisen geholfen.

Einerseits eine gewisse Flexibilität, die ich aber erst in viel späteren Jahren aktiv wahrnahm, die aber sicher teilweise auch durch die ständigen Umzüge mitverursacht wurde. Andererseits das Mindset für Situationen, in denen niemand an dich glaubt und du ganz alleine auf weiter Flur stehst. So nach dem Motto, wenn andere behaupten: „Das schaffst du nie!“ und man antwortet: „Ich werde euch zeigen, wie ich es mache!“ Diese Kombination aus beiden Denkarten hat bei den Problemen und deren Bewältigung eine große Rolle gespielt, denn ich habe aktiv etwas unternommen, in einer fast ausweglosen Situation, und sie nicht einfach über mich hinwegrollen lassen.

Ein Beispiel dafür ist sicherlich meine Zeit nach dem Studium, wo ich sofort in Hartz IV rutschte. Beim Arbeitsamt wurde ich wehleidig angesehen, als ich offerierte, was ich studiert habe, und eine Dame sagte mir im geheimen Kämmerlein, dass ich so gut wie keinerlei Marktwert hätte, selbst wenn ich mit Magister mein Studium vollendet habe. Diesen Marktwert konnte ich mittlerweile verbessern, durch ständige Weiterbildungen in anderen Bereichen, aber auch eben durch meine Arbeit als Blogger. Es ist dann eben nicht der typische Weg, den man als Philosoph vielleicht einschlägt, aber es ist mein Weg und andere hätten das möglicherweise nicht so geschafft. Andererseits habe ich auch noch vor zu promovieren, und selbst die Suche nach einem Doktorvater bzw. einer Doktormutter gestaltete sich bisher schwierig; doch auch das werde ich sicherlich noch schaffen.

 Max Rosenbaum ist Philosophie Blogger auf unter www.denkatorium.de.

Aus dem akademischen Mittelbau

Wie würden Sie Ihren sozialen Hintergrund beschreiben?

Ich bin als ältestes von drei Geschwistern in einer westdeutschen Großstadt aufgewachsen. Meine Mutter hat zunächst viel Haus- und Familienarbeit geleistet. Als die Kinder älter waren, hat sie dann etwas dazu verdient, zeitweise als Reinigungskraft, später als Tagesmutter. Mein Vater ist ein ziemlicher Aufsteiger. Er musste allerdings auch recht weit unten anfangen. Mit zehn Jahren Vollwaise und mittellos, ist er in verschiedenen Pflegefamilien und Kinderheimen in West- und Süddeutschland aufgewachsen. Die Hauptschule hat er mit 14 verlassen (müssen) und mit 18 hat er eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann abgeschlossen. Später hat er sich weiter hochgearbeitet, über den zweiten Bildungsweg die Fachhochschulreife nachgeholt und an einer FH Soziale Arbeit studiert. Je nach Definition bin ich, im Gegensatz zu ihm, also auch kein Akademiker der ersten Generation. Mein sozialer Hintergrund ist dennoch, denke ich, in einigen Dimensionen nicht der, den man sich unter einem klassischen akademischen Background vorstellt.

In Anbetracht der geringen finanziellen Mittel, die meiner Familie zur Verfügung standen, haben wir in einer überraschend wohlhabenden Gegend gewohnt. Umgeben von großzügigen Eigenheimen gab es dort auch zwei Wohnungen, die der Stadt gehörten und, weit unter Marktpreisen, an Familien mit geringem Einkommen vermietet wurden. Eine dieser Familien waren wir. Die Wohnung hatte eine seltene Kombination von Vorteilen: geringe Miete bei gleichzeitiger Lage im Einzugsgebiet guter Schulen. Aufgrund dieser Konstellation bin ich immer von vielen Mitschüler:innen umgeben gewesen, die aus Familien mit spürbar höherem sozio-ökonomischen Status kamen. Diese Erfahrung war nicht durchgängig positiv. Ich habe mich oft nicht so recht dazugehörig und unter spezieller Beobachtung gefühlt. Besonders nervös war ich, wenn ich bei Schulfreund:innen „aus gutem Haus“ eingeladen war, auch wegen des enormen Respekts, den ich meine Eltern diesen Familien habe entgegenbringen sehen. Wenn sich dann, in diesen guten Häusern, der Professorenvater schonmal nebenbei über Arbeitslose mokiert hat (während Bekannte meiner Eltern arbeitssuchend waren) oder die Lehrerinnenmutter eine abfällige Bemerkung über die Putzfrau eingestreut hat (während meine Mutter Treppenhäuser geputzt hat), habe ich das als sehr kränkend empfunden. Ich glaube, das hat in mir früh so etwas wie Klassenbewusstsein und einen vagen Wunsch, „es denen zu zeigen“ hervorgebracht.

Kernaspekt meines Unterfangens, es (unklar, was genau) denen (unklar, wem genau) zu zeigen, war, mich durch gute schulische Leistungen hervorzutun. Bei uns zu Hause wurde ohnehin großer Wert auf die Schule gelegt und ich war es deshalb gewöhnt, viel zu lernen. Die gewünschten Ergebnisse stellten sich auch weitestgehend ein; ich war meistens Klassenbester. Interessant waren die Reaktionen meiner Eltern. Einerseits waren sie extrem stolz. Anderseits haben auch die besten Noten nicht ausgereicht, um ihnen die Unsicherheit zu nehmen, dass ich vielleicht doch nicht so ganz in das Milieu hineinpasse, in dem ich mich nun mal befand. Den Vorschlag meiner Mutter, mich erstmal auf die Realschule zu schicken, konnte meine Grundschullehrerin genauso wenig nachvollziehen, wie ich neun Jahre später die Empfehlung meines Vaters, nach dem Abitur doch zunächst eine Ausbildung als Berufskraftfahrer zu machen, um etwas in der Hand zu haben. Nicht, dass irgendetwas grundsätzlich gegen Realschulen oder die Berufskraftfahrerei spräche. Aber beides waren eher ungewöhnliche Ratschläge für Schüler mit meinem Notenschnitt.

Was waren für Sie besondere Schwierigkeiten, die mit Ihrem Hintergrund zu tun hatten oder haben? 

Hauptschwierigkeiten für mich waren der Mangel an Geld und der Mangel an sozialem Kapital. („Mangel“ ist hier jeweils relativ zu verstehen, da ich meinen sozialen Hintergrund am privilegierteren Ende des breiten Spektrums an nicht-universitären Hintergründen verorten würde).

Geld. Dass Geldmangel auch ganz direkt den Bildungschancen schaden kann, habe ich erst recht spät, in der 11. Klasse, zu spüren bekommen. Vorher hatte er sich eher außerhalb der Schule (wenig bis kein Geld für Musikinstrumente, Sportvereine oder Reisen) bemerkbar gemacht. Mit Beginn der Oberstufe gingen dann aber die Kinder wohlhabender Eltern mehr oder weniger geschlossen ins Ausland. Zurück blieben die, die sich so etwas nicht leisten konnten. Danach konnten die einen gut Englisch, die anderen eben nicht. Später an der Uni gab es zum Glück BAföG. Aber trotz (beinahe) Höchstsatz, Nebenjob und einem WG-Zimmer für 150€, war ich am Monatsende meistens pleite. Das hat bei mir zu einem Gefühl des Gehetztseins geführt. Die Regelstudienzeit des Bachelors zu überschreiten war keine Option, mit jedem zusätzlichen Semester sinkt der Rabatt auf die BAföG-Schulden. Auch Master und Promotion mussten so schnell wie möglich durchgezogen und zu 100% durch Stipendien gedeckt werden. Lief das eine aus, musste woanders Nachschub her, damit bloß keine Lücke entsteht. Trotz seiner positiven Konnotationen hat ein, sich daraus zwangsläufig ergebender, „zielstrebiger“ Studienverlauf auch handfeste Nachteile. Dass bei der Vergabe von Stellen oft auf die Anzahl der Publikationen pro Jahr nach Abschluss der Promotion geschaut wird, finde ich vom Ansatz her richtig. Problematisch finde ich die Wahl des Stichtags: sie bevorzugt die, die die Mittel haben, sich auf dem Weg zum Doktortitel auch mal ein paar Jahre mehr Zeit zu lassen, gegenüber denen, die diese Möglichkeit nicht haben. Wer den Weg vom Studienanfang bis zum Doktortitel in zwölf statt acht Jahren gehen kann, hat anderthalbmal so viel Zeit sein Publikationsportfolio auf- und auszubauen, bevor es auf den Jobmarkt geht.

Soziales Kapital. Im Rückblick finde ich es faszinierend, was man in Schule und Gymnasium, selbst wenn sie gut sind, alles nicht lernt. Ich hatte ein prima Abi, aber wenig Ahnung, wie man einen Lebenslauf verfasst oder eine Email an eine:n Professor:in schreibt (sind die Grüße jetzt freundlich, lieb, herzlich oder die besten? Oder doch lieber erstmal mit „hochachtungsvoll“ auf Nummer Sicher gehen?). Dem gutgemeinten familiären Rat meinen CV bunt zu gestalten („dann werden sie direkt auf dich aufmerksam!“) bin ich zum Glück nicht lange gefolgt. Meine Bekannten aus klassischen Akademikerfamilien habe ich immer um ihre Wissensressourcen in solchen Belangen beneidet. Die kannten immer jemanden, der sich schonmal auf dieses oder jenes beworben hatte, und wussten einfach, was man bei einem Vorstellungsgespräch trägt, wie man ein Praktikum bekommt oder worauf es bei einem Anschreiben ankommt. Zu meinem von Hause aus schlechtem Netzwerk kam bei mir zunächst auch eine gewisse Unfähigkeit zum Netzwerken hinzu. Ich habe lange gebraucht zu verstehen, dass die Teilnahme am Konferenzdinner für Karrierezwecke bisweilen wichtiger ist als die Teilnahme an den eigentlichen Vorträgen. Ich habe noch länger gebraucht, dem Verständnis auch Rechnung zu tragen und mich nicht vor dem Abendessen zu scheuen. In meiner Familie ging man nicht nur nicht ins Theater, sondern auch nicht ins Restaurant. Neben der Sorge, mich dort durch schlechte Umgangsformen zum Deppen zu machen, hatte ich immer die Befürchtung, nicht mitreden zu können. Die Erkenntnis, dass nicht alle Professor:innen ausschließlich über Wein und Opern sprechen wollen, hat sich bei mir erst relativ spät eingestellt.

Was hat Ihnen dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden?

Geholfen haben mir, neben den bereits genannten Aspekten, vor allem Mentor:innen. Leute, die mir z.B. klar gemacht haben, dass man auch ein Stipendium oder einen Platz an einer internationalen Top-Uni bekommen kann, wenn man einfach gute philosophische Arbeit leistet, und nicht nebenher noch im Bundesjugendorchester und der Hockeynationalmannschaft spielt. Auch habe ich Lehrveranstaltungen als umso angenehmer empfunden, je mehr es dort ganz konkret um die zu lesenden Texte und die darin enthaltenen Argumente und Thesen ging, und je weniger um das Assoziieren kultureller Referenzen. Meiner Erfahrung nach ist dieser Fokus auf philosophische Sachfragen (vermutlich ein theoriebeladener Begriff) innerhalb der analytischen Philosophie stärker ausgeprägt als außerhalb.

Der Verfasser dieses Beitrags ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer deutschen Universität.

Uwe Peters

Von Grübelei zum gesellschaftlichen Nutzen

Meine Eltern stammen aus schlichten DDR-Verhältnissen aus dem Ostberliner Umland und sind keine akademischen Leute. Mein Vater, der unter anderem auch länger auf dem Bau gearbeitet hat, verlässt regelmäßig den Raum, wenn ich philosophische Themen anspreche. Und nachdem ich meinen PhD 2016 fertiggestellt hatte, meinte meine Mutter, dass Philosophieren sicher nur Grübelei sei und zu viel Grübelei nicht gesund sein könne.

Die Reaktionen meiner Eltern kann ich nachvollziehen. Sie verloren ihre Arbeit, als die Mauer fiel. Da das Geld langsam ausging, geriet unsere Familie (als ich 9 und meine Schwester 12 war) in eine finanzielle Krise. Die legte sich irgendwann wieder. Aber die Angst, finanzielle Sicherheit zu verlieren, blieb und war möglicherweise gravierend genug, dass meine Eltern eine Abneigung gegenüber generell eher brotlosem Theoretisieren oder Philosophieren entwickelten.

Dass ich ein Philosophiestudent der ersten Generation in meiner Familie wurde, ist auch aus anderen Gründen eigenartig. Nach der Schule schien mir zunächst eine Handwerksausbildung sinnvoll. Da ich Holz gut finde (mittlerweile besonders wenn es noch im Wald steht), entschloss ich mich, eine dreijährige Tischlerausbildung zu machen. Mein Tischlermeister (Jörg Sydow) erlaubte mir, während meiner Lehre, öfter in der Arbeitszeit Nietzsche, Marx, Adorno und de Sade (nicht zu empfehlen) zu lesen, weil die mich interessierten. Nach dem Gesellenbrief arbeitete ich dann noch 4 Jahre lang teilweise auf dem Bau. Das hat überwiegend Spaß gemacht. Aber während der Lehre musste ich teils auch in der Fabrik (EgoKiefer Hennigsdorf) arbeiten, was eher langweilig war, sodass ich mich entschloss, das Abitur abends (in Berlin) neben der Arbeit nachzuholen.

Nach dem Abi 2004 ging ich dann nach Amerika, um dort über den Sommer in Maine (bei Northern Outdoors) als Tischler in einem Resort zu arbeiten (Blockhütten reparieren, etc.). Die Arbeit war gut. Mein J-1 Visum lief allerdings nach drei Monaten ab und ich musste im Spätsommer wieder nach Deutschland. Als ich nach Berlin zurückkehrte, war ich zwar planlos, hatte aber Abitur. Ich erkundigte mich an verschiedenen Unis nach Studienfächern, wo man mir allerdings sagte, dass es Einschreibefristen gebe und diese bereits abgelaufen seien. Greifswald hatte damals aber unter anderem in der Philosophie noch freie Plätze. Da ich Nietzsche während meiner Lehre interessant fand und in Greifswald mit Stegmaier auch ein Nietzsche-Experte lehrte, ging ich dorthin und begann nach 7 Jahren Tischlerarbeit mit dem Philosophiestudium.

Mein Studium versuchte ich, mit meinem ersparten Tischlergeld zu finanzieren. Das reichte allerdings nicht, um für drei Jahre eine eigene Wohnung zu mieten. Meine Eltern gaben etwas Unterstützung, hatten aber selbst nicht viel Geld. Meine Noten waren jedoch schon während meines Abiturs überwiegend sehr gut (vielleicht, weil ich das aus eigenem Antrieb und nicht mehr aus Zwang machte). Die Uni schlug mich deswegen in meinem zweiten BA Jahr bei der Studienstiftung vor, die mich nach einem zweitägigen Selektionstreffen aufnahm.

Ich wollte dann im Ausland einen MA machen, dachte aber, dass die Stiftung höchstens ein Jahr finanzieren würde. Deshalb suchte ich eine Uni, wo ich das zweite MA Jahr selber hätte finanzieren können. Neuseeland war deshalb attraktiv. Und weil ich zudem so weit weg wie möglich wollte (in der DDR durfte man nicht weit reisen), zog ich dorthin und machte einen BA honours und MA in Christchurch. Meine Studienzeit dort war schön. Es gab aber niemanden in meiner Familie, der/die vorher hätte sagen können, dass es gut wäre, an eine andere Uni (z.B. in die USA oder nach GB) zu gehen, da es so was wie Prestigevorurteilen geben könnte. Die Studienstiftung merkte auch nicht, dass eventuell einige Student:innen wegen ihrer sozio-ökonomischen Hintergründe weniger Ahnung haben könnten, wo sie studieren sollten, um bessere Chancen in der Zukunft zu haben.

Die Lehrenden in Neuseeland wiesen mich aber darauf hin. Während der Zeit stellte sich obendrein heraus, dass die Stiftung nun auch zweijährige MAs finanzieren würde. Ich fand dann im Internet noch einen einjährigen MA speziell in Philosophy of Psychology am King’s College London. Da mich Psychologie zunehmend mehr interessierte, ging ich also mit finanzieller Förderung nach London. Dort gab man mir später auch ein AHRC-PhD-Stipendium. Kurz vor Studienanfang stellte sich aber heraus, dass das nur die Studiengebühren beinhalten würde. Mein Erspartes war für die Lebenshaltungskosten in London für 4-5 Jahre zu wenig. Deshalb musste ich während meines PhD-Studiums parallel arbeiten, verpasste Seminare, und das Studium dauerte dementsprechend länger.

Wegen meiner siebenjährigen Arbeit vor dem Studium und der Notwendigkeit, während des Studiums einem Nebenjob nachzugehen, war ich am Ende des PhDs bereits älter. Altersdiskriminierung ist mir dann zum ersten Mal begegnet. Zwei Beispiele: Die Altersgrenze für Postdoc Jobs an der UNAM lag zu meiner Zeit bei 40 Jahren. Für den Teorema Young Philosopher Essay Wettbewerb war ich schon zu alt: Die Altersgrenze liegt bei 35 Jahren. Offensichtlich ist man mit 36 Jahren philosophisch senil.

Kurz gefasst: Ich denke, dass Leute an der Uni (Studenten:innen etc.), die aus dem Handwerk kommen und keine akademischen Eltern haben, manchmal eventuell unfair behandelt werden. Sie haben vielleicht weniger Geld, um sich aufs Studium zu konzentrieren. Sie wissen möglicherweise nicht, wo man was wie sinnvoll (d.h., mit guter Aussicht auf Arbeit in der Zukunft) studieren kann/sollte, und können deshalb leichter Prestigevorurteilen ausgesetzt sein. Sie sind vielleicht auch älter, was sie leichter zu Opfern von Altersdiskriminierung machen könnte. Und sie riskieren, sich durchs Studium von ihrer Familie und ihrem ursprünglichen Umfeld zunehmend zu entfremden.

Aber ich glaube, mein nicht-akademischer, handwerklicher Hintergrund hilft mir manchmal auch, gewisse Dinge in einer Art und Weise zu sehen, die in der Philosophie vielleicht sinnvoll sein könnte. Meine Eltern und mein Ex-Tischlermeister (Jörg) fragen sich z.B. oft, was für einen gesellschaftlichen Beitrag ich denn eigentlich an der Uni in der Philosophie leiste. Die Frage ist berechtigt.

Geisteswissenschaftler:innen an der Uni werden üblicherweise von der Gesellschaft finanziert. Manche Menschen mit nicht-akademischem, finanziell weniger gesichertem Hintergrund wissen die Berechtigung der Frage möglicherweise besser zu schätzen, gerade weil ja nun deren Familienmitglieder und Freund:innen diese Frage sicher öfter stellen als in einem akademischen, finanziell wohlständigen Elternhaus, wo das Leisten eines gesellschaftlichen Beitrags generell weniger existenziell relevant sein könnte.

Dadurch, dass sie die gesellschaftliche Relevanz des Faches Philosophie weniger unkritisch als gegeben akzeptieren, sind Personen ohne akademischen Hintergrund eventuell in einer besseren Position, das Fach gesellschaftlich relevanter zu machen (etwa durch ihre Forschungsthemenwahl, durch eine interdisziplinäre Herangehensweise etc.). Ich persönlich finde den Mangel an Fortschritt, Einigkeit und Lösungen grundlegender fachlicher Probleme sowie die empirischen Belege der sozialen Irrelevanz von vielen Teilen der Philosophie eher besorgniserregend. Das Bedenken hat mit Neoliberalismus (den ich ablehne) nichts zu tun, sondern scheint mir vor allem eine Sache der sozialen Verantwortung von Philosoph:innen zu sein.

Vielleicht haben gerade Handwerker:innen oder sozio-ökonomisch Benachteiligte leichter Einsicht in den derzeitigen, meiner Meinung nach etwas begrenzten gesellschaftlichen Nutzen von vielen Teilen der Philosophie und eine stärkere Motivation, das zu ändern. Vielleicht könnten mehr solcher Leute im Fach der Philosophie der Philosophie helfen, mehr soziale Bedeutung zu erlangen. Und vielleicht würde dann sogar mein Vater irgendwann weniger regelmäßig den Raum verlassen, wenn ein philosophisches Thema aufkommt.

Uwe Peters ist Postdoctoral Researcher im Center for Science and Thought (Universität Bonn) und im Leverhulme Centre for the Future of Intelligence (University of Cambridge).

Georg Meggle

Zu meinem nicht-akademischen Familienhintergrund

Ob die Tatsache, dass ich ein 1st-Generation-Akademiker bin, für mich eine Rolle spielt? Sicher. Aber welche? Was hat meine nicht-akademische Herkunft mit und aus mir gemacht?

„Akademiker“ – wenn mein Vater (Georg Meggle: 1900 – 1963) dieses Wort in meiner Gegenwart sagte, konnte ich stets ein ungewöhnlich hohes Maß an Respekt mitschwingen hören. Und auch heute noch entnehme ich dem damaligen Klang dieses Wortes zweierlei: zum einen das Bedauern eines Menschen, der weiß, dass diese Anerkennung ihm selber unwiederbringlich versagt bleiben wird; und zum anderen den Appell, dass ich mir auch ja stets der mit diesem Wort verbundenen Chance bewusst sein möge.

Die Jugend meines Vaters muss, auch wenn ich ihn über diese nie hatte klagen hören, eine harte gewesen sein. Maria Meggle (1878-1945), seine Mutter, brachte drei Söhne zur Welt – von drei verschiedenen Vätern. Die ersten beiden unehelich. Damit für die beiden jüngeren eine bessere Schulbildung möglich ist, muss der Älteste, mein Vater, von früh an – gleichsam als Ersatz-Versorger – das Brot verdienen. Und was tut mein Vater? Was ihm an Schule fehlt, bringt er sich selber bei. In Abendkursen und als zielstrebiger Autodidakt. Das Geld für diese Kurse verdient er mit Nachhilfestunden für andere. Den Abschluss einer Höheren Schule erreicht er damit freilich nicht. Von 1914 bis 1936 arbeitet er in Kempten als Maschinensetzer im Verlag Kösel & Pustet, dann als einfacher Angestellter im Messungsamt und nach dem Kriegsdienst  bis zu seinem Tod (1963) im Finanzamt.

Sein Lebensinhalt hatte mit seiner Erwerbsarbeit nichts zu tun. Mit Finanzen am allerwenigsten. Dafür hatte er aber etwas, was den meisten Menschen fehlt: Eine Sendung. Sein ganzes Engagement gehörte dem sogenannten Laienapostolat. Die katholische Kirche sollte nicht nur durch den Klerus, vielmehr von allen Gläubigen, also auch den Laien, aktiv mit-bestimmt werden. Diesem Ziel, im übrigen auch ein Programmpunkt des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), widmet er all seine Kraft.

Vor ihrer Heirat (1939) hatte meine Mutter (Paulina Meggle, geb. Hummel (1902-1983)), die lediglich die „Sonntagsschule“ in dem Kemptener Stadtteil Steufzgen besucht hatte, zunächst als Verkäuferin gearbeitet und dann als Dienstmädchen bei verschiedenen „Herrschaften“. Diese waren von sehr unterschiedlicher Natur. Von guter, aber auch von weniger guter. Mit ihrer letzten ‚Herrschaft‘ verband sie bis an ihr Lebensende eine innige Freundschaft. Die Protestantin Charlotte Bonenberger hat gewiss nie vergessen, dass ihr katholisches Paulchen ihrem Mann, einem bekannten kommunistischen Verleger, als Nazi-Schergen ihn abholen wollten, mit einer Notlüge das Leben gerettet hat.

Papas Akademikerträume für mich blieben von seinen kirchlichen Neigungen nicht unberührt. Sein Megatraum war, dass ich Jesuit – gar einer ihrer Generale – werden würde. Deshalb wurde ich auch auf den Namen Ignatius von Loyola getauft. Von diesem Traum hatte ich als kleiner Junge meinen Vater selber reden gehört. Da in den ersten Nachkriegsjahren in einen Teil unserer Wohnung Flüchtlinge einquartiert waren, stand mein Bett lange im Elternschlafzimmer. Und da bekam ich eines Nachts mit, wie Papa von diesem Traum sprach. Mamas Antwort: „Daraus wird nix.“ Ich weiß nicht, ob das nur als eine Vermutung oder schon als ihr Veto gemeint war. Papas Antwort war wie so oft: „Nun, in Gott’s Namen.“ Aber immerhin: Theologie war, neben Philosophie und Germanistik, eines der Fächer, mit denen ich in München mein Studium begann. Doch das hat mein Vater ja schon nicht mehr erlebt.

Aber der erste Schritt in Richtung Academia war nicht das Studium, sondern das Gymnasium. Und dort hätte das kleine Georgle dem Traum des großen Vater-Georg-Meggle fast schon bei der ersten Gelegenheit ein unrühmliches Ende bereitet. Ich fiel gleich in der ersten Klasse in Latein durch. Woran das lag, das kann ich mir heute selber nicht mehr erklären. Es gab keine Prügel (die gab es zu Hause freilich ohnehin nie, und in der Haubenschloss-Volksschule auch nur von einem mir verhassten Kapuzinerpater im Religionsunterricht); auch kein Geschrei. Meinerseits sicherlich Tränen. Doch was mich am stärksten schmerzte: Ich spüre, wie eine abgrundtiefe Traurigkeit meinem Vater das Atmen schwer macht. Natürlich wollte ich, welche Schande, nicht in die alte Volksschule zurück, verspreche Besserung und Fleiß und weiß Gott noch alles. Mein Vater fragt meine Klassen- und Lateinlehrerin Frau Miller um Rat. Und diese erklärt: Es habe keinen Sinn, mich auf dem Gymnasium zu belassen; bei der nächsten neuen Sprache, dem Altgriechischen in der Quarta, würde ich eh gleich wieder versagen.

Mein Vater belässt mich auf dem Gymnasium. In der Quarta bekomme ich Frau Miller in Griechisch – und mein Geist erwacht: „Pass auf, Dir werd‘ ich’s zeigen!“  Von da an hatte ich in Latein und Griechisch fast nur noch ne 1. Und im Nachhinein bin ich dieser im Grunde recht lieben alten Lehrerin für ihren damaligen „Rat“ sogar dankbar. Ohne  diesen wäre ich wohl im Mittelmaß hängen geblieben. Aber dass mein Vater im Jahr vor meinem Abi auf dem Weg zur Kirche auf einer Eisplatte ausgerutscht und in der darauffolgenden Nacht an den Folgen einer Gehirnblutung gestorben ist, er mit seinem Sterben also nicht bis zu diesem Sieg seines Sohnes hat warten können, dies machte ich ihm damals – so absurd das auch klingen mag – tatsächlich zum Vorwurf.

Auf dem Humanistischen Gymnasium Kempten gab es zu meiner Zeit ein ziemlich klares Zwei-Klassen-System. Die a-Klassen waren für die Stadtschüler reserviert, die b-Klassen für die Schüler vom Land. Die Stadt-Schüler, das waren in der Mehrzahl die Kinder von Ärzten, Rechtsanwälten und anderen Honorationen. Die Land-Schüler waren meist Bauernkinder, die das Schuljahr über großteils im Knabenseminar St. Magnus untergebracht waren, einer von der Kirche finanzierten  Einrichtung zur Förderung von Priesterkandidaten. Für viele Bauernfamilien war das die einzige Chance, auch ihren Buben eine gute Ausbildung und so auch einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Meine Eltern gehörten nun aber weder zu der Kemptener Oberschicht noch zu der Allgäuer Bauernschaft. Und so wurde ich ein paarmal, wenn eine der beiden Klassen zu wenig Schüler hatte, in eben diese verschoben. Je nach Bedarf. Diese Erfahrung hat mein Klassenbewußtsein erheblich geschärft.

Jetzt ein großer Zeitsprung. Ich bin an der Uni Konstanz. Mich erreicht mein erster Ruf auf eine Professur, auf eine  für Logik und Wissenschaftstheorie am Philosophischen Institut  am Domplatz in Münster. Und schon werde ich von einem Konstanzer Philosophie-Kollegen eingeladen, für den ich bis dahin als bloßer Mitarbeiter an einem DFG-Projekt, ich erinnere mich wohl, quasi nicht existent war. Und als ich in Münster ein paar Jahre später den Ruf auf eine C4-Stelle nach Saarbrücken erhalte, gratuliert mir ein Juristen-Kollege doch echt mit dem Spruch: „Klasse, jetzt bist Du als Ordinarius ja endlich voll satisfaktionsfähig.“ Offenbar war ich schon damals gegen solche Kasten-Rituale hyper-allergisch. Es sind Rituale, die sich als inklusiv ausgeben (jetzt bist Du ja einer von uns) und genau dadurch ihre strukturelle Exklusion (der niedrigen Kasten, zu denen auch ich bis dahin gehörte) maximieren.

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Waren all diese prä- und frühakademischen Empfindlichkeiten meinerseits lediglich Äußerlichkeiten? Durch meine nicht-akademische Herkunft geprägte Entwicklungen, die nur den Stil, nicht so sehr die Thematik meiner philosophischen Einsätze betrafen? Prägt mein nicht-akademisches Elternhaus nur das wie, nicht auch das was meines eigenen akademischen Wirkens? 

Das mag allenfalls für die Zeit meiner rein akademischen Qualifikationsarbeiten gegolten haben. Aber sicher nicht mehr für meine in den 80er Jahren in Münster beginnenden philosophischen Interventionen danach, sprich: nicht für meine Arbeiten zur Logik der Abschreckung und des Terrorismus, zur Theorie des Gerechten Krieges und deren Anwendung auf die so genannten Humanitären Interventionen, und schließlich für meine Positionierung In Sachen Deutschland, Israel, Palästina und meine jahrelangen Bemühungen um eine Klärung des Antisemitismus-Begriffs. Und sicher auch nicht für die mit diesen Themen verknüpften Leipziger Universitätsveranstaltungen, mit denen ich die Grenzen zwischen dem berühmten universitären Elfenbeinturm einerseits und einer kritisch reflektierenden Öffentlichkeit andererseits aufzubrechen versucht hatte.

Wenn ich jetzt (Sommer 2022) auf meine Anfänge zurückblicke, so komme ich nicht um die Feststellung herum, dass von dem idealisierten Academia-Bild, das meinem Vater vorgeschwebt sein muss und auch mich sehr lange geprägt hat, nicht mehr viel übrig ist. Meine äußeren Erfolge sind nur die eine Seite; aber dieser akademische ‚Aufstieg‘ ist seit über 30 Jahren auch mit einer wohl nie mehr endenden Kette von Anfeindungen und Demütigungen verbunden. „Akademiker“ – dieses Wort hat für mich seinen anfänglichen Glanz inzwischen gänzlich verloren. Ebenso geschwunden ist mein Glaube an die Institution, die, wie es früher mal hieß, als Alma Mater uns Akademiker nähren und Kraft geben soll: die Universität.

Ich erinnere mich an meine Sonntagsnachmittags-Runden mit meinem Vater – und drehe, ihn an meiner Seite spürend, noch eine weitere Runde.  Der akademische Traum meines Vaters war ja für mich gedacht, nicht für ihn selbst. Er selber brauchte ihn nicht. Er war auch ohne akademische Weihen ein aufrechter und mutiger Mann.  

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Georg Meggle ist Emeritus an der Universität Leipzig und seit 2010 in den Wintersemestern jeweils Gastdozent an Universitäten in Kairo. Weitere autobiographische Verstehensversuche in den Kapiteln 67 bis 75 des OpenAccess e-Books  https://eplus.unisalzburg.at/obvusboa/content/titleinfo/6202655 .

Klaus Feldmann

Ich bin in Altenberge/Westfalen nahe bei Münster geboren, einzelnen Philosoph*innen ist diese Kleinstadt geläufig, da Hans Blumenberg während seines letzten Lebensabschnitts dort lebte. In der Nähe bin ich in einer sehr ländlichen Gegend im Münsterland als mittleres Kind mit älterem und jüngerem Bruder aufgewachsen und meine Eltern haben während meiner gesamten Kindheit eine Gärtnerei mit mehreren Angestellten betrieben. Neben dem Schulbesuch war der Alltag von der Mithilfe im elterlichen Unternehmen gekennzeichnet, die harte, körperliche Arbeit darstellte, verbunden mit dem Bewusstsein, die materiellen Lebensgrundlagen sichern zu müssen. Für meine Eltern war es während meiner gesamten Kindheit selbstverständlich, dass die gesamte Familie sich in dem Betrieb einbringt, so dass Wochenenden und Schulferien zu einem großen Teil davon bestimmt waren.

Neben dieser von Monotonie durch Massenproduktion gekennzeichneten Arbeit, die das Familienleben stark bestimmte, bin ich in einem mehr oder weniger geschlossenen katholischen Milieu aufgewachsen. Institutionell besuchte ich vom Kindergarten bis zum Abitur ausschließlich katholische Bildungseinrichtungen. Zugleich durchzog das kirchliche und spirituelle Leben normativ autoritär den familiären Alltag: Der Gottesdienstbesuch mindestens an Sonn- und Feiertagen galt als absolute Pflicht, das Gebet vor jeder Mahlzeit als eine Selbstverständlichkeit, die (regelmäßige) Teilnahme an den verschiedenen Sakramenten verbunden mit den entsprechenden moralischen Vorstellungen des Katholizismus war gefordert, die Übernahme von Ämtern in der Kirche wurde erwartet.

Es lässt sich nicht leugnen, dass auch die Lektüre von Büchern durchaus eine Rolle in meiner Familie spielte, ebenfalls ermöglichten mir meine Eltern das Erlernen von Instrumenten. Bei aller Unterstützung, für die ich auch bis heute dankbar bin, wurde diesen kulturellen Tätigkeiten allerdings nur marginale Bedeutung im alltäglichen Lebensvollzug zugesprochen, ganz zu schweigen davon, sie als eine ernsthafte berufliche Perspektive anzusehen. Bereichernd wirkte sich mein Besuch der weiterführenden Schule auf die Entwicklung meiner geistigen Welt aus. Begünstigt wurde dies durch ein funktionierendes Gesamtschulkonzept. Als eine der ersten Gesamtschulen in der Bundesrepublik mit der Besonderheit der katholischen Trägerschaft war sie – in den Grenzen ihrer Möglichkeiten – geprägt von einer schichtenübergreifenden Schüler*innenschaft. Auch wenn der konfessionelle Rahmen gegeben war, so fehlte doch der gymnasiale Elitismus, das gemeinsame Lernen und Arbeiten mit Schülerinnen und Schülern aller sozialen Klassen und Leistungsniveaus hat meine Sicht auf den Bildungsbegriff nachhaltig geprägt.

Die Wahl meiner Studienfächer, meiner Abschlüsse und letztlich auch die meiner konkreten Studieninhalte ist von diesen biographischen Erfahrungen stark beeinflusst: Neben Philosophie habe ich katholische Theologie mit dem Ziel Staatsexamen und Lehramt studiert. Ich verspürte angesichts meiner Erfahrungen mit körperlicher Arbeit in meiner Kindheit einen Drang nach Geisteswissenschaften, einem zweckfreien Nachdenken über die Welt, mit dem Studium der Theologie wollte ich erkunden, was es letztlich Bedeutsames mit der Religion und dem Glauben auf sich hat. Das akademische Leben mit Forschung und Lehre, mit dem meine Herkunfsfamilie so gut wie keinen Kontakt hatte, eröffnete mir im Verlauf meines Studiums eine neue Welt und die Bildungsidee wurde für mich immer mehr zu einem zentralen Wert von orientierender und befreiender Größe. Inhaltlich arbeitete ich mich in meinen Studienfächern an der rationalen Durchdringung meiner Glaubensbiographie ab, philosophisch interessierten mich zunächst ethische Konzepte, um mich rational mit den starken normativen Gehalten meiner Erziehung auseinanderzusetzen.

Nach meinem Studium schlug ich zunächst aufgrund meiner positiven Schulerfahrungen und meines Bildungsidealismus die Möglichkeit einer Promotion zugunsten des Lehramtes aus. Nach über zehn Jahren Lehrtätigkeit am Gymnasium kehrte ich an die Universität zurück, promovierte in Bildungsphilosophie bzw. Philosophiedidaktik und lehre in diesem Bereich inzwischen genauso lange. Insgesamt sind meine biographischen Erfahrungen leitend für meine Haltung zur Frage der Bildung. Sie stellte für mich die Möglichkeit der Befreiung aus einem Leben dar, welches ich mir nicht selbst gewählt habe, in das ich aber mehr oder weniger hineingeboren wurde. Leitend für meine philosophische Arbeit ist daher die Konzeption eines unverkürzten Begriffs (philosophischer) Bildung und seine Weitergabe an Schüler*innen und angehende Lehrer*innen.

Klaus Feldmann ist Akademischer Rat am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. 

Thomas Meyer

(1) Wie würdest Du Deinen sozialen Hintergrund beschreiben?

Mir wurde recht früh klar „I came from a broken home” (Gil Scott-Heron). Meine Mutter (Jahrgang 1957) war gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann, mein Vater (Jahrgang 1942) gelernter Elektriker. Geboren und aufgewachsen bin ich im Bergischen Land nahe Köln in NRW, wo auch mein Vater herkam. Meine Mutter ist als erste in der BRD in Köln geboren, ihre Eltern, die aus Sachsen kamen, haben in den frühen 1950er Jahren rübergemacht. Nie verheiratet haben sich meine Eltern (beide wie schon ihre Eltern konfessionslos) kurz nach meiner Geburt getrennt, so dass ich bei meiner alleinerziehenden Mutter gemeinsam mit meinem älteren Bruder (der einen anderen Vater hat) aufwuchs. Bis zu meiner Volljährigkeit war meine Mutter weitestgehend alleinerziehend. Wenn Männer im Haushalt waren, dann hat das oft zu Konflikten geführt, in die häusliche Gewalt, Alkoholmissbrauch und emotionaler Missbrauch involviert waren.

Mein einziges Glück war, dass meine Mutter viel Wert darauf legte, dass ich eine gute Schullaufbahn hinlegen und im Anschluss studieren würde („Dann hast Du es später leichter als ich.“). Ich habe den größten Respekt vor dieser so starken Frau, die nicht nur all den Widrigkeiten und der Gewalt getrotzt hat, die sich nicht nur nebenher noch in Ortsvereinen wie etwa der AWO engagierte, sondern vor allem ganz alleine ihre zwei Söhne erzogen hat, dafür sorgte, dass sie Anstand und Manieren, einen Schulabschluss, einen Führerschein und wenigstens eine Ausbildung gemacht haben.

Sie selbst hatte es nicht so leicht und ist von ihrem Vater nach dem Realschulabschluss rausgeworfen worden mit dem Argument, sie könne ja jetzt ihr eigenes Geld verdienen. Aber leichter gesagt als getan, hatte sie mit mir dann mit einem störrischen Pubertierenden zu tun, der lieber auf die Hauptschule gegangen wäre, auf der all seine Freunde waren. Dennoch ging ich nach viel heftigem Streit und rohen Zwiebeln zunächst aufs Gymnasium, wiederholte die 8. Klasse, hätte diese nochmal wiederholen müssen, wäre ich dann nicht zunächst auf die Realschule gegangen. Dort fing ich mich, machte den Abschluss mit Qualifikation für das Gymnasium und erlangte dann im Anschluss mein Abitur – als erster und einziger meiner Generation in meiner Familie, soweit sie mir bekannt war. Ganz so einfach ist es nämlich dann doch nicht. Mein Onkel mütterlicherseits hätte nach dem Abitur studieren können, hätte er sich nicht so aufmüpfig gegenüber den DDR-Autoritäten verhalten. Und wie ich viel später erfuhr, haben aus der Familie meines Vaters, die 10 Kinder gewesen sind, ebenfalls einige meiner Cousins und Cousinen Abitur gemacht und sogar studiert. Allerdings waren diese für mein eigenes Leben nicht existent.

(2) Was waren für Dich besondere Schwierigkeiten, die mit Deinem Hintergrund zu tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?

Manche der Schwierigkeiten werden mir erst jetzt, als Postdoc, wirklich bewusst. Insofern hat auch mich sicherlich eine Naivität davor bewahrt, es gar nicht erst zu versuchen. Auf dem Gymnasium stand mir im Weg das ständige Gefühl, da nicht hinzugehören – zwischen Mitschülern, die mit mehr Sicherheit auftraten, deren Eltern Ärzte und was wusste ich damals schon waren. Mitschüler, die wohlbehütet in Einfamilienhäusern wohnten, anstatt in Genossenschaftswohnungen, die vielleicht mit Freunden Wissensspiele spielten, anstatt mit den Nachbarskindern im Fluss Eimer zu rauchen, die vielleicht Klavier übten, anstatt Wände zu bemalen, die Schach lernten anstatt Mofas zu knacken. Die Schwierigkeiten fangen, denke ich, bereits damit an, dass man es gar nicht erst auch nur als eine Möglichkeit in Erwägung zieht, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen. Macht man dies (durch ganz viel Glück), dann gehen die Schwierigkeiten weiter: mein ganzes Studium über habe ich nebenher arbeiten gehen müssen, um es finanzieren zu können. Von einem „Stipendium“ hatte ich nie etwas gehört. Sicherlich hat es irgendwo auch mal Hinweise auf Stipendien gegeben, aber da geht das Problem eben weiter. Man achtet auf so etwas nicht, weil man es nicht versteht, nie davon gehört hat und es kein Teil der grundsätzlich in Erwägung gezogenen Optionen ist. Und wenn niemand aus Familie, Freundeskreis oder etwa unterstützenden Lehrern einen darauf hinweist oder sogar ermutigt, es zu versuchen, dann gibt es diese Möglichkeit schlicht nicht. Schließlich war und ist auch die Angst ein Hindernis, die eigene Herkunft überhaupt preiszugeben. Die Angst davor, sich bloß zu stellen, oder dazustehen als jemand, der Vorteile erlangen will, Angst davor, nicht für Verdienst, sondern aus Mitleid anerkannt zu werden.

(3) Was hat Dir dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?

Ich denke eine sehr wichtige Entscheidung war, nach 6 Semestern das Lateinstudium zu beginnen (nachdem ich das Latinum nachgeholt hatte), wobei auch hier vor allem das Glück vorherrschte, da ich einfach Spaß an Latein hatte. Die Wichtigkeit dieser Entscheidung wurde mir erst klar, als ich lernte, dass Latein ein klassisches Aufsteigerfach ist. Man kann gut werden rein durch Fleiß und zugleich lernt man viele wichtige Kompetenzen ebenso wie viele zentrale Bildungsinhalte über Geschichte, Kunst, Literatur und auch Philosophie kennen. Es ist schon ironisch, dass gerade Latein das Schulfach gewesen war, das mich durch ein „ungenügend“ auf dem Zeugnis neben mehreren „mangelhaft“ sitzenbleiben ließ.

Weiter hat mir geholfen die Haltung „Da musst du halt durch!“. Kraft dafür habe ich in entmutigenden Situationen gezogen und ziehe ich immer noch aus – Rapmusik. Auch wenn die Rap- und Hip Hop-Kultur selbst intern problematische Formen der Diskriminierung wie Sexismus perpetuiert und sich unbedingt weiter entwickeln muss (siehe aber etwa: Ebow, Josi, Liz, Juju, Nura), so ist sie doch auch eine starke Quelle des Empowerment.

Insofern die Schwierigkeiten des Aufstiegs in dem Unwissen über die Welt der Gebildeten bestand, haben mir einige Freundschaften mit Kommilitoninnen und Kommilitonen aus dem sogenannten „Bildungsbürgertum“ geholfen, sowie der Eintritt in den Universitätsmusikchor. Hier habe ich mich auch lange Zeit versucht, nach oben hin zu assimilieren voller Begeisterung für die Welt der Kunst, Musik, Literatur und Bildung. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, wie ich zum ersten Mal das Familienhaus eines guten Freundes betrat: die Wände waren mit Kunst seines Vaters gesäumt, Regale voll mit Klassikern der Literatur in Edelausgaben – und dann dieser Flügel im Wohnzimmer. Es ist eine schöne Erinnerung, auch wenn mir diese Erfahrung zugleich eine Schicht dessen aufdeckte, was ich nicht genossen hatte. Mit dieser Begeisterung ging nun aber eine starke Abgrenzung gegenüber meinem Herkunftsmilieu einher, die lange anhielt und natürlich auch zu vielen Konflikten führte. Hier hat mir die Lektüre der Rückkehr nach Reims sehr geholfen, das mir wiederum von einer Bekannten empfohlen wurde, als ich bereits promoviert war. Das war einige Jahre nach der Veröffentlichung der deutschen Fassung, die damals in allen Feuilletons besprochen und sicherlich von der gesamten deutschen Bildungsbürgerschicht bereits gelesen worden war. Eine weitere Lektüre die mir erst kürzlich weiter Klarheit verschafft hat ist die Hillbilly Elegy. Insbesondere das Kennenlernen der adverse childhood experience (ACE) und den damit einhergehenden Problemen, die natürlich auch einen Bildungsaufstieg weiter erschweren, hatte für mich wichtigen aufklärenden Charakter.

(4) Gibt es besondere Einsichten oder Perspektiven, die Du Deinem Hintergrund verdankst und die für Deine philosophische Forschung oder Lehre von besonderem Wert sind?

Zunächst ist man gezwungen, viel mehr Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen und darüber nachzudenken. Ich konnte mich in Widerständigkeit üben. Außerdem hatte ich nichts zu verlieren, weshalb ich vielleicht oft auch risikoaffiner an Dinge herangegangen bin. Philosophiespezifische Vorteile sehe ich gar nicht so sehr, zumindest nicht für die Forschung. In der Lehre glaube ich, einen Blick zu haben für Studierende, die vielleicht aus ähnlichem Milieu kommen, bzw. ganz allgemein einen Blick zu haben für systemisch benachteiligte Gruppen.

Thomas Meyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Gen Eickers

Mein Dasein als Philosoph*in der ersten Generation nehme ich nicht per se als etwas Schlechtes wahr; ich bin sogar froh. Vor allem um das Aufwachsen auf dem Land, das sehr verkörperte Verständnis von Leben und Arbeit, und das mir vermittelte Verständnis dessen, was lebensnotwendig ist. Jedoch sind natürlich strukturelle Probleme damit verbunden. Diese würde ich als Zugangs-Probleme zu spezifischem Wissen und habituellen Zugehörigkeitsproblemen spezifizieren. Die Probleme können sich dann wiederum materiell auswirken: in der Schule z.B. als Noten, später in den Finanzen, und durchgängig auch psychisch. Mein familiärer Hintergrund ist einerseits landwirtschaftlich und andererseits handwerklich geprägt. Meine Kindheit habe ich oft damit verbracht, mit meinem Großvater auf dem Traktor in den Wald zu fahren um dort Waldarbeiten zu erledigen. Der landwirtschaftliche Betrieb war jedoch bereits größtenteils eingestellt als ich Kind war; das hatte sicherlich die Auswirkung, dass von mir z.B. nicht erwartet wurde, den Betrieb weiterzuführen. Im Gegenteil: Bildung war sehr wichtig, und vor allem auch dadurch motiviert, dass einigen Familienmitgliedern Bildung versagt wurde – z.T. als Folge von Vertreibung, und z.T. aufgrund Erwartungen an bestimmte Geschlechter-Rollen.

Mein sozialer Hintergrund hat eine Rolle gespielt bei verschiedenen Entscheidungen und Schwierigkeiten auf meinem Bildungsweg: mir wurde zum Beispiel empfohlen, das 12jährige Gymnasium zu machen – zu der Zeit ein Modellversuch in Baden-Württemberg; das Gymnasium wäre allerdings ein anderes gewesen als das, auf das alle anderen „vom Dorf“ gingen und kam entsprechend für mich und meine Familie nicht in Frage. Im Nachhinein denke ich, vielleicht hätte das 12jährige Gymnasium die Langeweile, die ich oft in der Schule hatte und die beizeiten auch zu starkem Leistungsabfall beigetragen hat, etwas abfedern können. Gleichzeitig bin ich mir bewusst darüber, dass Gymnasien ohnehin nicht unbedingt ‚lower class friendly‘ sind. Meine Noten haben sicherlich nicht nur durch die Langeweile gelitten, sondern auch durch eine mit Leistungserwartungen und Anforderungen durchtränkte Lernumwelt, die auf Kosten der mentalen Gesundheit geht.

Nach dem Abitur entschied ich mich zunächst für ein Staatsexamensstudium – dies vermittelte mir eine Art Sicherheit, die ich benötigte, um mir selbst ein Studium zu erlauben: die Bezahlung des Lehrer*innen-Berufs lag über dem für mich Gewohnten, und es bestanden Aussichten auf dauerhafte Stellen. Wobei auch hier Listen nach Abschlussnoten erstellt wurden, die eine Aussagekraft über die Kompetenz und Motivation der angehenden Lehrer*innen vortäuschten. An der Universität, an der ich studiert habe, pendelten sehr viele der Studierenden täglich bis zu zwei Stunden vom Land; ich auch, bis ich mir durch Bafög, Halbwaisenrente, und Minijob ein Zimmer finanzieren konnte. Ein Stipendium war nicht auf meinem Radar: als studierende Person dachte ich, Stipendien wären nur für Menschen aus Familien mit hohen und sehr guten Bildungsabschlüssen oder Menschen, die schon jahrelang in einer politischen Partei aktiv sind (und dieses Bild wird eben auch ein Stück weit durch die Stipendienlandschaft vermittelt). Außerdem war ich neben dem Studium damit beschäftigt, zu lernen dialekt-frei zu sprechen; Dialekt war an der Uni in Baden-Württemberg ein eindeutiger Marker für eine andere Klassen- oder Bildungszugehörigkeit.

Mein Interesse an philosophischen Fragen war lange schon groß; mich trieben insbesondere auch Fragen um soziale Gerechtigkeit im alltäglichen Denken und Handeln um. Zur Promotion kam ich allerdings vor allem dadurch dass ich von Mentor*innen dazu angehalten und ermutigt wurde – ich wäre nicht selbst auf die Idee gekommen, mich bei einer Graduiertenschule zu bewerben; meine Zeugnisse erschienen mir etwas zu punk, die Hürden erschienen mir viel zu groß und ich erschien mir nicht zugehörig (trotz mittlerweile größtenteils dialekt-freien Sprechens).

Während meiner Promotion erschienen mir viele der ungeschriebenen sozialen und akademischen Regeln fremd und unzugänglich: Wie verhält man sich bspw. bei einer Konferenz? Wieviel Geld kann man beantragen? Wieso besitzen viele andere Promovierende so viele Bücher? Zudem hat das Nicht-Vorhandensein einer finanziellen Absicherung dazu geführt, dass ich meine Promotion innerhalb von 3 Jahren abgeschlossen habe – also genau in der Zeit meines Stipendiums. Das hatte keine negativen Auswirkungen auf die Dissertation, jedoch hat es natürlich zu erhöhtem Druck und Stress geführt, und die Explorationsphase fiel entsprechend kurz aus.

Die strukturellen Probleme, mit denen ich während meiner Bildung und Promotion konfrontiert war, haben mit Eintreten in die Postdoc-Phase nicht schlagartig aufgehört. Einiges zieht langfristige „Begleiter*innen“ nach sich: das Gefühl, nicht genug zu tun; das Gefühl, eigentlich keinen richtigen Job zu haben; das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Insbesondere in Deutschland kommen natürlich die strikten Regeln zu akademischen Karrieren erschwerend hinzu und befördern Prekarisierung und finanzielle Unsicherheit. Sicherlich spielt bei mir – wie bei einigen anderen – nicht ausschließlich der soziale Hintergrund eine Rolle diesbezüglich, sondern auch andere Aspekte meiner Identität wie z.B. offen gelebte Queerness. Der soziale Hintergrund bzw. das Dasein als Philosoph*in erster Generation ist bei einigen Philosoph*innen nur einer von mehreren Marginalisierungsaspekten. Siehe z.B. Maren Behrensen’s Beitrag: während Maren Behrensen der*die einzige deutsche trans und einzige nicht-binäre Philosoph*in mit einer unbefristeten Stelle in Europa ist, bin ich – soweit ich das überblicken kann – die einzige trans und nicht-binäre Person in der Philosophie mit einer (Postdoc-)Stelle in Deutschland. Schaut man sich Statistiken zu bspw. Erwerbslosigkeit von trans und nicht-binären Personen in Deutschland an, ist das leider nicht verwunderlich. Die akademische Philosophie in Deutschland (wie vermutlich einige andere Disziplinen auch) hat einen langen Weg vor sich, um gerechtere Verhältnisse herzustellen, die nicht nur Philosoph*innen der ersten Generation zu Gute kämen, sondern auch anderen unterrepräsentierten Personengruppen in der Philosophie und insbesondere mehrfach marginalisierten Personen. In manchen anderen Disziplinen bzw. in anderen Ländern werden marginalisierte Personen gezielt zur Bewerbung aufgerufen, und Marginalisierungsthemen (in der Philosophie) werden gezielt gefördert und berücksichtigt. Hier geht es nicht um eine zwanghafte Diversifizierung der Stellen sondern auch um ein Umdenken hinlänglich der Fragen, die wir in der Philosophie stellen und unserer Definition dessen, was Philosophie ist und was sie sein könnte.

Gen Eickers ist Postdoc an der University of Education Ludwigsburg.

Markus Schrenk 

(1) Wie rdest Du Deinen sozialen Hintergrund beschreiben?

Meine Eltern waren sehr jung, 17 und 19 Jahre alt, und selbst noch in Ausbildung, als ich zur Welt kam. Meine Mutter war Erzieherin, mein Vater Finanzbeamter. Wir lebten in einem Dorf in Rheinland-Pfalz, kulturelle Angebote waren eher rar und mein Gymnasium mehr oder weniger der einzige Ort, der Zugang zu Bildung, zu Kultur und Wissenschaft ermöglichte. Glücklicherweise hatte ich einige gleichgesinnte Schulfreunde, die auch an Philosophie interessiert waren, und Lehrer, die mein Interesse förderten. Meine Eltern haben mir auch nie Steine in den und, wo sie es konnten, einige aus dem Weg gelegt.

(2) Was waren für Dich besondere Schwierigkeiten, die mit Deinem Hintergrund zu tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?

Dass viele meiner Kommiliton:innen unter Professor:innen, Lehrer:innen, Ärzt:innen, etc. aufgewachsen waren, habe ich besonders in Oxford, wo ich promovierte, oder auf Sommerakademien der Studienstiftung erfahren/ erspürt. Deutlich wurden diese Differenzen jedoch nicht in Uniseminaren, denn da ist die analytische Philosophie ja begrüßenswert egalitär, sondern besonders im außerakademischen Kontext: In vielen akademischen Elternhäusern geht man ja selbstverständlicher mit kulturellen Referenzen um, ist weiter gereist, geht häufiger aus, spricht ggf. mehrere Sprachen, etc. Das schüchterte schon ein. Auf einer Sommerakademie beeindruckte mich dann besonders, dass unser Prof nach der Wanderung erst einmal eine Runde Bier für alle bestellte: Was? Auch Professor:innen trinken Bier, nicht Wein?

(3) Was hat Dir dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?

Naivität! Es hat nämlich etwas gedauert, bis mir der Grund der Differenz explizit klar wurde. Glücklicherweise durfte ich mich zu diesem Zeitpunkt schon über akademische Erfolge freuen, so dass ich meistens damit umgehen konnte. Aber es gab durchaus Momente, in denen mir das nicht möglich war. Und dann fluktuierten die Emotionen zwischen dem Gefühl, inadäquat zu sein, und dem Selbstbewusstsein, es ja trotzdem „geschafft“ zu haben.

(4) Gibt es besondere Einsichten oder Perspektiven, die Du Deinem Hintergrund verdankst und die für Deine philosophische Forschung oder Lehre von besonderem Wert sind?

Zusammen mit dem Team von denXte, einer philosophischen Vortragsreihe für Bürger:innen in Düsseldorf, habe ich 2022 den Communicator-Preis der DFG und des Stifterverbands für Wissenschaftskommunikation verliehen bekommen. Das hat mich enorm gefreut und ich vermute, dass mir meine nicht-universitäre Vergangenheit hilft, wirklich auf Augenhöhe mit den Bürger:innen zu kommunizieren und die Brücke zwischen akademischer Wissenschaft und Menschen ohne philosophische Vorkenntnisse zu schlagen.

Markus Schrenk ist Professor für Metaphysik und Sprachphilosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Deborah Mühlebach

In meiner Familie fand viel soziale Bewegung statt. Meine Mutter wuchs in einer Bauernfamilie in einer ländlichen Region auf, die für ihre Armut bekannt war und es in abgeschwächter Form noch heute ist. Obwohl sie gerne lernte, konnte sie das dritte, damals freiwillige Schuljahr der Oberstufe nicht besuchen. Meine Großeltern konnten und wollten den Betrag von 1,50€ für ihr tägliches Mittagessen auswärts nicht bezahlen. Als junge Frau absolvierte sie deshalb stattdessen ein Haushaltslehrjahr und finanzierte sich später selbst eine Ausbildung zur Sekretärin. Mein Vater wuchs weniger ländlich, aber ebenfalls in prekären Verhältnissen auf. Da gab es eine Mutter, die als Hausfrau die Kinder großzog. Und es gab einen Vater, der mit bescheidenen Mitteln für den Familienunterhalt aufkam, aber auch ein großes Alkoholproblem hatte und relativ früh an den Folgen dieser Suchterkrankung starb. Aus diesen ärmlichen Verhältnissen arbeiteten sich meine Eltern hoch und bauten sich mit einer traditionellen Rollenverteilung ein finanziell und anderweitig stabiles Leben auf.

In meiner Kindheit erfuhr ich viel Geborgenheit und Liebe und wenig Neugierde und Interesse an Unbekanntem. Ich wuchs mit dem Gefühl auf, alles machen zu können und dürfen, was mich zufrieden machte. Und mit der großen Unkenntnis darüber, was dies überhaupt sein könnte. Die Welt schien mir damals nicht allzu viele Optionen zu bieten und ich war oft gelangweilt.

Aufgrund guter Noten landete ich im Gymnasium und weil mich «Soziales» ganz allgemein interessierte, fing ich ein Soziologiestudium an. Im sozialtheoretischen Denken entdeckte ich eine Leidenschaft, die ich bis dahin in diesem Ausmaß nicht kannte. Auf der langen Suche nach einem geeigneten Nebenfach stieß ich in meinem ersten Philosophieseminar zu Kants «Kritik der reinen Vernunft» schließlich auf die philosophische Art des Denkens, in der ich mich zum ersten Mal intellektuell richtig zuhause fühlte. In langsamen Schritten bewegte ich mich danach hin zur Philosophie im Hauptfach. Später ließ ich mir von meiner Mutter erklären, dass Philosophie auf dem Gymnasium doch immer mein Lieblingsfach gewesen sei. Sie hatte recht, aber bis zu diesem Zeitpunkt war mir dies in keiner Weise bewusst. Philosophie war zu weit weg von allem, was bis dahin zu meinem Selbstverständnis gehörte.

Der Wechsel vom Gymnasium an die Uni ist die einschneidendste Erfahrung, die ich bisher in meinem Leben gemacht habe – ein Nachhausekommen, welches ein Abstoßen meines bisherigen Zuhauses zu erfordern schien. Ich hatte keine Meinung zum Weltgeschehen und wusste nicht, was eine sachliche Diskussion ist. Ich musste lernen, dass Widerspruch nicht persönliche Ablehnung bedeutet. Ich hatte Angst davor etwas Dummes zu sagen und meldete mich bis zum Ende meines Studiums kaum jemals in einem Seminar zu Wort – es sei denn, die Rolle der Tutorin verlange dies von mir, dann hatte ich keine Mühe zu reden. Ich kannte weder Theoretiker:innen noch andere Autor:innen, weil ich bis zum Studium kaum Bücher gelesen hatte. Ich fand mich in zahlreichen Situationen wieder, in denen meine Unifreund:innen in belanglosen Nebensätzen deutlich machten, welche Lebensstile akzeptabel waren und welche nicht. Was ich aus meinem Elternhaus kannte, gehörte immer zu Letzteren. Die Folge davon waren soziale Scham und das Nichtteilen von Erfahrungen. Ich wusste sehr bald sehr vieles aus der Vergangenheit und dem Umfeld meiner Unifreund:innen, sie wussten kaum etwas von mir.

Es erforderte viel Arbeit, um zu meinem neuen intellektuellen Zuhause, welches ich an der Uni gefunden hatte, eine gesunde kritische Distanz zu entwickeln. In diesem Prozess lernte ich, dass unterschiedliche soziale Milieus ihre eigenen sozialen Normen haben und dass es möglich ist, meine eigene Position in und zwischen mehreren Milieus zu behalten, ohne eines komplett annehmen oder ablehnen zu müssen. Die Abwertung, die mein Herkunftsmilieu durch mein akademisches Milieu erfährt, ist für mich inzwischen ein Zeugnis von Ignoranz und Unsicherheit des letzteren und ich versuche, meine Ressourcen dahingehend zu nutzen, dieser Abwertung entgegenzutreten. Um an diesen Punkt zu kommen, halfen mir ganz konkret die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Annie Ernaux und Didier Eribon. Auf eine andere Art und wohl noch wichtiger ermöglichten mir aber insbesondere meine Eltern diesen Prozess. Sie waren in der Lage zu formulieren, wie schmerzhaft es ist, dass sich ihre Tochter für sie zu schämen scheint, und sie waren und sind noch immer bereit, mit mir gemeinsam neue Wege zu finden, wie wir unsere Gemeinsamkeiten leben und unseren Differenzen wertfreier begegnen können.

Diese jahrelange Arbeit eines (mit der Zeit) bewussten Milieuwechsels, meine ausgeprägte Beobachtungsgabe, das im Soziologiestudium erlernte Denken in Strukturen und die Genauigkeit des philosophischen Denkens ließen mich über die Jahre hinweg eine Art des Denkens und Handelns entwickeln, die mein heutiges philosophisches Arbeiten ganz zentral ausmacht. Ich neige zum einen dazu, verschiedene Denktraditionen zusammenzubringen, die üblicherweise nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Zum anderen mache ich häufig auf problematische implizite Grundannahmen einer Debatte aufmerksam oder bringe grundsätzlich vernachlässigte neue Annahmen ins Spiel. Und schließlich besteht mein ganzes philosophisches Interesse darin Phänomene besser verstehen zu wollen, in denen Machtstrukturen das Denken, Wahrnehmen und Sprechen von uns Menschen maßgeblich mitformen. Dies scheint mir selbst eine interessante philosophische Arbeitsweise unter vielen möglichen zu sein – zudem eine, die (noch) nicht allzu oft praktiziert wird.

Deborah Mühlebach ist Postdoc an der FU Berlin.