Uwe Peters

Von Grübelei zum gesellschaftlichen Nutzen

Meine Eltern stammen aus schlichten DDR-Verhältnissen aus dem Ostberliner Umland und sind keine akademischen Leute. Mein Vater, der unter anderem auch länger auf dem Bau gearbeitet hat, verlässt regelmäßig den Raum, wenn ich philosophische Themen anspreche. Und nachdem ich meinen PhD 2016 fertiggestellt hatte, meinte meine Mutter, dass Philosophieren sicher nur Grübelei sei und zu viel Grübelei nicht gesund sein könne.

Die Reaktionen meiner Eltern kann ich nachvollziehen. Sie verloren ihre Arbeit, als die Mauer fiel. Da das Geld langsam ausging, geriet unsere Familie (als ich 9 und meine Schwester 12 war) in eine finanzielle Krise. Die legte sich irgendwann wieder. Aber die Angst, finanzielle Sicherheit zu verlieren, blieb und war möglicherweise gravierend genug, dass meine Eltern eine Abneigung gegenüber generell eher brotlosem Theoretisieren oder Philosophieren entwickelten.

Dass ich ein Philosophiestudent der ersten Generation in meiner Familie wurde, ist auch aus anderen Gründen eigenartig. Nach der Schule schien mir zunächst eine Handwerksausbildung sinnvoll. Da ich Holz gut finde (mittlerweile besonders wenn es noch im Wald steht), entschloss ich mich, eine dreijährige Tischlerausbildung zu machen. Mein Tischlermeister (Jörg Sydow) erlaubte mir, während meiner Lehre, öfter in der Arbeitszeit Nietzsche, Marx, Adorno und de Sade (nicht zu empfehlen) zu lesen, weil die mich interessierten. Nach dem Gesellenbrief arbeitete ich dann noch 4 Jahre lang teilweise auf dem Bau. Das hat überwiegend Spaß gemacht. Aber während der Lehre musste ich teils auch in der Fabrik (EgoKiefer Hennigsdorf) arbeiten, was eher langweilig war, sodass ich mich entschloss, das Abitur abends (in Berlin) neben der Arbeit nachzuholen.

Nach dem Abi 2004 ging ich dann nach Amerika, um dort über den Sommer in Maine (bei Northern Outdoors) als Tischler in einem Resort zu arbeiten (Blockhütten reparieren, etc.). Die Arbeit war gut. Mein J-1 Visum lief allerdings nach drei Monaten ab und ich musste im Spätsommer wieder nach Deutschland. Als ich nach Berlin zurückkehrte, war ich zwar planlos, hatte aber Abitur. Ich erkundigte mich an verschiedenen Unis nach Studienfächern, wo man mir allerdings sagte, dass es Einschreibefristen gebe und diese bereits abgelaufen seien. Greifswald hatte damals aber unter anderem in der Philosophie noch freie Plätze. Da ich Nietzsche während meiner Lehre interessant fand und in Greifswald mit Stegmaier auch ein Nietzsche-Experte lehrte, ging ich dorthin und begann nach 7 Jahren Tischlerarbeit mit dem Philosophiestudium.

Mein Studium versuchte ich, mit meinem ersparten Tischlergeld zu finanzieren. Das reichte allerdings nicht, um für drei Jahre eine eigene Wohnung zu mieten. Meine Eltern gaben etwas Unterstützung, hatten aber selbst nicht viel Geld. Meine Noten waren jedoch schon während meines Abiturs überwiegend sehr gut (vielleicht, weil ich das aus eigenem Antrieb und nicht mehr aus Zwang machte). Die Uni schlug mich deswegen in meinem zweiten BA Jahr bei der Studienstiftung vor, die mich nach einem zweitägigen Selektionstreffen aufnahm.

Ich wollte dann im Ausland einen MA machen, dachte aber, dass die Stiftung höchstens ein Jahr finanzieren würde. Deshalb suchte ich eine Uni, wo ich das zweite MA Jahr selber hätte finanzieren können. Neuseeland war deshalb attraktiv. Und weil ich zudem so weit weg wie möglich wollte (in der DDR durfte man nicht weit reisen), zog ich dorthin und machte einen BA honours und MA in Christchurch. Meine Studienzeit dort war schön. Es gab aber niemanden in meiner Familie, der/die vorher hätte sagen können, dass es gut wäre, an eine andere Uni (z.B. in die USA oder nach GB) zu gehen, da es so was wie Prestigevorurteilen geben könnte. Die Studienstiftung merkte auch nicht, dass eventuell einige Student:innen wegen ihrer sozio-ökonomischen Hintergründe weniger Ahnung haben könnten, wo sie studieren sollten, um bessere Chancen in der Zukunft zu haben.

Die Lehrenden in Neuseeland wiesen mich aber darauf hin. Während der Zeit stellte sich obendrein heraus, dass die Stiftung nun auch zweijährige MAs finanzieren würde. Ich fand dann im Internet noch einen einjährigen MA speziell in Philosophy of Psychology am King’s College London. Da mich Psychologie zunehmend mehr interessierte, ging ich also mit finanzieller Förderung nach London. Dort gab man mir später auch ein AHRC-PhD-Stipendium. Kurz vor Studienanfang stellte sich aber heraus, dass das nur die Studiengebühren beinhalten würde. Mein Erspartes war für die Lebenshaltungskosten in London für 4-5 Jahre zu wenig. Deshalb musste ich während meines PhD-Studiums parallel arbeiten, verpasste Seminare, und das Studium dauerte dementsprechend länger.

Wegen meiner siebenjährigen Arbeit vor dem Studium und der Notwendigkeit, während des Studiums einem Nebenjob nachzugehen, war ich am Ende des PhDs bereits älter. Altersdiskriminierung ist mir dann zum ersten Mal begegnet. Zwei Beispiele: Die Altersgrenze für Postdoc Jobs an der UNAM lag zu meiner Zeit bei 40 Jahren. Für den Teorema Young Philosopher Essay Wettbewerb war ich schon zu alt: Die Altersgrenze liegt bei 35 Jahren. Offensichtlich ist man mit 36 Jahren philosophisch senil.

Kurz gefasst: Ich denke, dass Leute an der Uni (Studenten:innen etc.), die aus dem Handwerk kommen und keine akademischen Eltern haben, manchmal eventuell unfair behandelt werden. Sie haben vielleicht weniger Geld, um sich aufs Studium zu konzentrieren. Sie wissen möglicherweise nicht, wo man was wie sinnvoll (d.h., mit guter Aussicht auf Arbeit in der Zukunft) studieren kann/sollte, und können deshalb leichter Prestigevorurteilen ausgesetzt sein. Sie sind vielleicht auch älter, was sie leichter zu Opfern von Altersdiskriminierung machen könnte. Und sie riskieren, sich durchs Studium von ihrer Familie und ihrem ursprünglichen Umfeld zunehmend zu entfremden.

Aber ich glaube, mein nicht-akademischer, handwerklicher Hintergrund hilft mir manchmal auch, gewisse Dinge in einer Art und Weise zu sehen, die in der Philosophie vielleicht sinnvoll sein könnte. Meine Eltern und mein Ex-Tischlermeister (Jörg) fragen sich z.B. oft, was für einen gesellschaftlichen Beitrag ich denn eigentlich an der Uni in der Philosophie leiste. Die Frage ist berechtigt.

Geisteswissenschaftler:innen an der Uni werden üblicherweise von der Gesellschaft finanziert. Manche Menschen mit nicht-akademischem, finanziell weniger gesichertem Hintergrund wissen die Berechtigung der Frage möglicherweise besser zu schätzen, gerade weil ja nun deren Familienmitglieder und Freund:innen diese Frage sicher öfter stellen als in einem akademischen, finanziell wohlständigen Elternhaus, wo das Leisten eines gesellschaftlichen Beitrags generell weniger existenziell relevant sein könnte.

Dadurch, dass sie die gesellschaftliche Relevanz des Faches Philosophie weniger unkritisch als gegeben akzeptieren, sind Personen ohne akademischen Hintergrund eventuell in einer besseren Position, das Fach gesellschaftlich relevanter zu machen (etwa durch ihre Forschungsthemenwahl, durch eine interdisziplinäre Herangehensweise etc.). Ich persönlich finde den Mangel an Fortschritt, Einigkeit und Lösungen grundlegender fachlicher Probleme sowie die empirischen Belege der sozialen Irrelevanz von vielen Teilen der Philosophie eher besorgniserregend. Das Bedenken hat mit Neoliberalismus (den ich ablehne) nichts zu tun, sondern scheint mir vor allem eine Sache der sozialen Verantwortung von Philosoph:innen zu sein.

Vielleicht haben gerade Handwerker:innen oder sozio-ökonomisch Benachteiligte leichter Einsicht in den derzeitigen, meiner Meinung nach etwas begrenzten gesellschaftlichen Nutzen von vielen Teilen der Philosophie und eine stärkere Motivation, das zu ändern. Vielleicht könnten mehr solcher Leute im Fach der Philosophie der Philosophie helfen, mehr soziale Bedeutung zu erlangen. Und vielleicht würde dann sogar mein Vater irgendwann weniger regelmäßig den Raum verlassen, wenn ein philosophisches Thema aufkommt.

Uwe Peters ist Postdoctoral Researcher im Center for Science and Thought (Universität Bonn) und im Leverhulme Centre for the Future of Intelligence (University of Cambridge).

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