In seinem Artikel Professional Identity and Roles of Journalists befasst sich der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Hanitzsch mit journalistischer Identität und gibt einen theoriebasierten Überblick über Rollenmodelle im Journalismus. Zentral ist die Frage, wie ein Verständnis davon entsteht, was unter Journalismus zu begreifen ist. Für die Auseinandersetzung mit Journalismus in Mittel- und Osteuropa ist Hanitzschs Analyse nützlich, da sie einerseits ein generelles Verständnis von professioneller journalistischer Identität vermittelt. Andererseits wird in der Analyse auf Kontextfaktoren und regionale Unterschiede verwiesen, sodass eine Betrachtung nationaler und transnationaler Rahmenbedingungen von Journalismus ermöglicht wird.
Wie entstehen journalistische Rollenbilder? Welche Vorstellungen von Journalismus existieren?
Hanitzsch geht davon aus, dass journalistische Rollenbilder erst dadurch entstehen, dass Menschen über sie kommunizieren und sich über ihre jeweiligen Vorstellungen von Journalismus austauschen. Demnach sind Rollenbilder Hanitzsch zufolge nicht statisch oder universell, sondern permanent neu verhandelbar (S.3). Solch ein sehr lose Konzept von Rollenvorstellungen festigt sich, wenn sich im Diskurs besonders dominante Positionen herausbilden und institutionalisieren (ebd.). Diese werden von journalistischen Akteuren zur Orientierung genutzt, und es entstehen Normen und Praktiken, die beschreiben, was Journalisten leisten sollten, was sie dürfen, aber auch, was nicht ihre Aufgabe ist.
Journalistische Rollenbilder bestehen aber nicht nur aus normativen und kognitiven Konzepten, sondern auch aus dem tatsächlichen Verhalten von Journalisten sowie der Wahrnehmung und Einordnung ihres eignen Handelns. Dadurch ergeben sich vier Dimensionen, aus denen journalistische Rollenbilder betrachtet werden müssen:
- Was sollten Journalisten leisten?
- Was wollen Journalisten leisten?
- Was leisten Journalisten tatsächlich?
- Was denken Journalisten, was sie leisten?
Im Folgenden werden die vier Dimensionen jeweils kurz dargestellt.
Normative Rollen: Was sollen Journalisten leisten?
Normative Rollen umfassen Auffassungen darüber, wie Journalismus sein sollte (und wie nicht). Vorstellungen darüber stammen nicht von Journalisten selbst, sondern aus dem öffentlichen Austausch über Journalismus. Hanitzsch zufolge ist eine der am stärksten verbreiteten Vorstellungen über Journalismus, dass er einen Beitrag zu demokratischen Systemen darstellt (S.5). Möchte man journalistisches Handeln analysieren und einordnen, darf jedoch der Kontext politischer, ökonomischer sowie soziokultureller Aspekte nicht ignoriert werden. So ist zum Beispiel die sogenannte Watchdog-Rolle, das Beobachten und Prüfen von insbesondere politischen und wirtschaftlichen Eliten durch Journalisten, in funktionierenden Demokratien wünschenswert; ermöglicht werden Watchdog-Aktivitäten zudem durch medienorganisatorische Strukturen, die größtenteils unabhängig von staatlichen Strukturen verlaufen. Anders ist die Situation in einigen osteuropäischen Staaten, zum Beispiel in Ungarn, der Slowakei sowie der Tschechischen Republik (vgl. Metyková/Waschková Císarová 2009). Nach dem Ende des Kommunismus gingen viele Medienhäuser und -organisationen in staatlichen Besitz über oder werden seitdem mit teils erheblichen politischen Eingriffen konfrontiert. Eine beobachtende, kontrollierende Funktion von Journalismus könnte in diesem Zusammenhang weder wünschenswert noch umsetzbar sein, und daher für den Diskurs über Journalismus nur eine untergeordnete Rolle spielen. Normative Rollen sind also stark kontext- und situationsabhängig.
Kognitive Rollen: Was wollen Journalisten leisten?
Kognitive Rollen des Journalismus umfassen Vorstellungen von Journalisten über ihre Arbeit. Was verstehen die Akteure selbst unter Journalismus? Wozu wollen sie mit ihrer Arbeit beitragen? Wie will der Journalismus als Institution sein? Hanitzsch beschreibt kognitive Rollen als die Verinnerlichung normativer Werte (S. 7). Durch die berufliche Sozialisierung werden ihm zufolge Ideen, Praktiken und Normen von Journalisten an nachfolgende Generationen weitergegeben, wodurch sich unter Journalisten Vorstellungen festigen, wie Journalismus sein solle. Diese „beruflichen Mythen“ unterscheiden sich kulturell bzw. regional: Studien von Donsbach (1981) und Köcher (1986) zufolge sehen sich deutsche Journalisten als „spokesman for the underdog“ (S. 9), während sich britische Journalisten eher als neutrale Reporter betrachten. Journalisten in arabisch-sprachigen Ländern hingegen beschreiben es als ihre Aufgabe, politische und gesellschaftliche Missstände aufzudecken und dadurch Reformen anzustoßen (S. 10, vgl. Pintak 2014).
Praktizierte Rollen: Was leisten Journalisten tatsächlich?
Praktizierte Rollen umfassen beobachtbare Verhaltens- und Arbeitsweisen von Journalisten. Sie stellen Hanitzsch zufolge damit eine Verbindung zu normativen und kognitiven Rollen her: Hanitzsch geht davon aus, dass Menschen nach moralischen und professionellen Werten handeln, die sie selbst befürworten (S. 11). In dem Verhalten und der Arbeitsweise von Journalisten spiegele sich demnach (gewollt oder ungewollt) wider, welche Ansichten von professioneller Identität Journalisten hätten (ebd.). Es ist jedoch auch möglich, dass sich eigene Vorstellungen und ausgeübte journalistische Praktiken voneinander unterscheiden, zum Beispiel wenn politische Umstände Journalisten davon abhalten, nach ihren eignen Werten zu handeln.
Erzählte Rollen: Was denken Journalisten, was sie leisten?
Als letzte Dimension journalistischer Rollenbilder nennt Hanitzsch sogenannte erzählte Rollen. Durch Reflektieren und retrospektives Einordnen der eigenen Verhaltens- und Arbeitsweisen entstehen laut Hanitzsch bei Journalisten subjektive Wahrnehmungen über ihr Handeln (S. 13). Die subjektive Wahrnehmung steht Hanitzsch zufolge im engen Zusammenhang mit normativen und kognitiven Rollenbildern: Die Einschätzung des eigenen Handelns werde maßgeblich bestimmt von Vorstellungen darüber, wie Journalismus funktionieren solle (ebd.). Als Folge dessen würden diese Vorstellungen weitergegeben, normative sowie kognitive Rollenmuster würden normalisiert und es entstehe eine journalistische Kultur (ebd.).
Forschungsrelevante Herausforderungen
Die Forschung zu journalistischen Rollenkonzepten und professioneller Identität leidet Hanitzsch zufolge an einem Theoriedefizit; Befunde seien vor allem eine Aggregation von Umfragen unter Journalisten und gründeten eher auf methodologischem Individualismus (S. 18). Damit einher gehe, dass Studienergebnisse nur schwer miteinander vergleichbar seien, da ihnen ein gemeinsamer theoretischer Rahmen fehle (ebd.). In Frage stellt Hanitzsch zudem die Trennschärfe und Operationalisierung der Dimensionen normativer, kognitiver, praktizierter sowie erzählter Rollen (ebd.). Weiterhin kritisiert er, dass sich ein Großteil der Forschung auf westliche Gesellschaften konzentriert. Dadurch hätten sich überwiegend Forschungsansätze durchgesetzt, die Journalismus in einem demokratiebasierten Umfeld betrachten (ebd.). Zuletzt verweist Hanitzsch auf den Umstand, dass insbesondere der politische Journalismus Gegenstand der Forschung ist. Journalismus erfülle jedoch nicht nur die Funktion, die Öffentlichkeit über politische Angelegenheiten zu informiere, sondern habe darüber hinaus auch Unterhaltungs- und Servicefunktionen, die bislang wenig Beachtung in der Journalismusforschung fänden (S. 19).
Der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Mark Deuze befasst sich in seinem Artikel What is journalism? Professional identity and ideology of journalists reconsidered mit Identitätsmerkmalen des Journalismus unter Betrachtung der Aspekte Multimedialität und Multikulturalismus. Ausgangspunkt für Deuze ist die Annahme, dass sich Gesellschaften, Medien sowie Mediensysteme im Wandel befinden. Für die Untersuchung von Journalismus in Mittel- und Osteuropa sind Deuzes Überlegungen hilfreich, da sie eine Betrachtung des journalistischen Arbeitsfeldes unter Berücksichtigung insbesondere gesellschaftlicher und technologischer Transformationen ermöglichen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion befanden und befinden sich noch immer viele Länder in demokratischen Wandlungsprozessen, die sich auch auf Transformationen der jeweiligen Mediensysteme und damit auch auf den Journalismus auswirken (nähere Informationen hierzu beinhaltet Andrew Miltons Artikel Bound But Not Gagged. Media Reforms In Democratic Transitions). Hinzu kommen Medialisierungsprozesse, die einen globalen Einfluss haben, damit aber auch im jeweiligen nationalen Kontext Berücksichtigung finden müssen.
Vor diesem Hintergrund geht Deuze den Fragen nach, mit welchen Herausforderungen Journalisten in der heutigen Zeit konfrontiert sind, wie ein „neuer“ Journalismus aussieht oder aussehen könnte und in welchem Ausmaß theoretische Ansätze zur Einordnung journalistischer Identität noch aktuell sind.
Journalismus als Ideologie
Im Zuge der Professionalisierung von Journalismus im 20. Jahrhundert sind Diskussionen darüber, was „guter“ bzw. „echter“ Journalismus sei, Deuze zufolge ideologisch geprägt (S. 444). Ähnlich wie Hanitzsch geht also auch Deuze davon aus, dass bestimmte Vorstellungen über journalistische Rollenbilder und Verhaltensweisen existieren. Anders als Hanitzsch nimmt Deuze aber keine theoretische Dimensionierung journalistischer Rollen vor, stattdessen beschreibt er professionelle Identität anhand von fünf idealtypischen Merkmalen des Journalismus: Public Service, Objektivität, Autonomie, Aktualität sowie Ethik und Moral. Zentral für Deuze sind zudem die Begriffe Multimedialität („Medien ändern sich“) sowie Multikulturalismus („Gesellschaften ändern sich“), wobei beide Aspekte sowohl Ergebnisse von als auch Mechanismen für Wandlungsprozesse darstellen (S. 442ff.).
Journalismus und Technologie: Multimedialität
Parallel zur Professionalisierung des Journalismus entwickeln sich Medien in ihrer Funktionalität und ihrem gesamtgesellschaftlichen Einfluss permanent weiter. Gekennzeichnet ist diese Entwicklung laut Deuze unter anderem durch den Aspekt der Multimedialität, das heißt durch eine vielfältige Nutzung unterschiedlicher Medienformate und -inhalte (S. 450f.). Damit steigen Deuze zufolge die Anforderungen sowohl an journalistische Fähigkeiten als auch an journalistische Arbeitsstrukturen. So müssten Journalisten bei der Nachrichtenproduktion nicht nur technische Aspekte sowie verschiedene Medienformate berücksichtigen, sondern zunehmend auch in Kooperationen „cross-departmentalized“ arbeiten (S. 451). Als Folge durchlaufe der Journalismus einen „shift from individualistic,’top-down’ mono-media journalism to team-based, ‚participatory‘ multimedia journalism“ (S. 452).
Journalismus und Gesellschaft: Multikulturalismus
Deuze beschreibt kulturelle Vielfalt als einen wesentlichen Bestandteil moderner Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund stellt sich für ihn die Frage, welche Verantwortung Journalisten gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere Minderheiten, haben. Das Verhältnis zwischen Journalismus und Multikulturalität kann ihm zufolge in drei Kategorien unterscheidet werden. Zum einen verweist Deuze darauf, dass Journalisten mit ihrer Arbeit dazu beitragen, über gesellschaftliche Gruppen zu informieren und Wissen über sie zu verbreiten (S. 453). Zweitens nennt Deuze den Aspekt der Darstellung. Indem Journalisten festlegen, über welche Themen sie (nicht) berichten und welche Perspektiven sie bei der Darstellung bestimmter Themen (nicht) wählen, entscheiden sie (unbeabsichtigt), welche gesellschaftlichen Gruppen wie dargestellt werden (ebd.). Damit verbunden ist drittens die soziale Verantwortung, die Journalisten in multikulturell geprägten Gesellschaften zukommt (S. 454).
Idealtypische Merkmale von Journalismus unter Berücksichtigung von Multimedialität und Multikulturalität
Public Service
Traditionell wird Journalismus als Dienstleistung für die Öffentlichkeit gesehen (S. 447). Journalisten selektieren Themen, bereiten sie auf und tragen sie an die Bevölkerung weiter. Somit dienen sie als Informationsvermittler. Durch den Einsatz digitaler Medien haben ehemals als passiv verstandene Rezipienten heutzutage jedoch die Möglichkeit, eigens an Informationen zu gelangen bzw. Medieninhalte selbst zu generieren. Aufgabe von Journalisten ist es deshalb mehr und mehr, bereits vorhandene Themen zu verbreiten und damit eher eine Moderator-Rolle einzunehmen. Notwendig sei zudem eine kollaborative Arbeitsweise „to produce story packages that can be delivered across media“, um den Anforderungen digitaler Kanäle gerecht zu werden (S. 455).
Objektivität
Journalismus soll neutral, fair und glaubhaft sein, ohne dabei seine Kritikfunktion zu vernachlässigen. Unter Berücksichtigung von Multimedialität und Multikulturalismus wirft Deuze jedoch die Frage auf, wie realistisch der Vorsatz der Objektivität ist. Fraglich ist zum Beispiel, in welchem Umfang professionelle Distanz und die Inklusion multikultureller Themen und Sprecher miteinander vereinbar sind (S. 456). Wie objektiv ist ein Journalist, der zu Recherchezwecken Kontakt zu einer muslimischen Gemeinschaft in Berlin aufnimmt und zu Beteiligten eine freundschaftliche Beziehung entwickelt? Ist Objektivität noch ein valides Qualitätsmerkmal, wenn es um Multikulturalismus geht? Ferner hat der Wandel von einer individualistischen zu einer teambasierten Arbeitsweise bezüglich der Produktion multimedialer Inhalte zur Folge, dass Journalisten konfrontiert werden mit unterschiedlichen Interpretationen von Objektivität (ebd.).
Autonomie
Um ein gewisses Maß an Unabhängigkeit gewährleisten zu können, sollte Journalismus frei sein von jeglicher Zensur. Journalistische Akteure sollten deshalb eigene Entscheidungen treffen können, ohne sich dafür gegenüber anderen Funktionären rechtfertigen oder gar Repression befürchten zu müssen. Als Folge medialer und gesellschaftlicher Wandlungsprozess ist laut Deuze jedoch fraglich, ob Journalisten nicht einen Teil ihrer Autonomie einbüßen müssen. Journalisten, die in Multimedia-Nachrichtenagenturen arbeiten, werden mit unterschiedlichen Einstellungen und Präferenzen konfrontiert. Demnach könne davon ausgegangen werden, dass Journalisten zumindest lernen müssen, die Autonomie zu teilen (S. 456). Beschäftigt man sich mit ethnischen Gruppen, Nationalitäten oder religiösen Ansichten, die sich von den eigenen Unterscheiden, sei zudem eine community-basierte Berichterstattung notwendig (S. 456f.). Journalistische Autonomie ist in diesem Zusammenhang nicht die Autonomie des Einzelnen, sondern kollaborativ. Geteilt wird sie mit Kollegen und dem Publikum, das im Fall partizipatorischer Medienangebote in die Produktion involviert ist.
Aktualität
Aktualität ist Vorraussetzung für sowie ein wesentliches Merkmal von Journalismus. Im Zuge von Digitalisierung und Multimedialität sowie Multikulturalität wird journalistisches Arbeiten allerdings immer umfangreicher und damit zeitintensiver: Journalisten müssen mehr Themen selektieren, mehr Informationen be- und verarbeiten und, bedenkt man Fragmentierungstheorien der Öffentlichkeit, dabei Ansprüchen diverser Publika gerecht werden. Vor diesem Hintergrund gerät Aktualität als Merkmal professioneller journalistischer Identität zu einer Schwierigkeit (S. 457).
Ethik und Moral
Deuze zufolge gilt Ethik bei der Beurteilung der Qualität journalistischer Erzeugnisse als ein wesentliches Merkmal (S. 457). Journalisten und Wissenschaftler verwiesen zudem auf moralische Werte, um medientechnologische Neuerungen oder komplexe kulturelle Sachverhalte von de Hand zu weisen. Ethik könne daher einerseits betrachtet werden als Verteidigung kommerzieller und publikumswirksamer Maßnahmen (S. 458). Andererseits diene sie als Entscheidungsgrundlage für Medienakteure, auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Medienformate einzugehen sowie über mögliche Minderheitenthemen zu berichten (ebd.).
Fazit
Hanitzschs theoriebasierte Beschreibung journalistischer Rollenbilder und die Analyse idealtypischer Merkmale des Journalismus von Deuze bieten zum einen grundlegende Erkenntnisse über die Konzeptionierung journalistischer Identität. Zweitens verweisen beide Artikel auf nationale Unterschiede und einen zeitbedingten Wandel journalistischer Tätigkeiten. Dabei unterstreichen die Autoren die Bedeutung politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, denen Journalisten einerseits ausgesetzt sind, zu denen sie andererseits beitragen. Nicht zuletzt regen die Artikel außerdem dazu an, eigene Vorstellungen darüber zu reflektieren, was Journalismus leisten „muss“ oder „soll“.
Anne Stiller
Zusätzliche Literatur: