(1) Wie würdest Du Deinen sozialen Hintergrund beschreiben?
Mir wurde recht früh klar „I came from a broken home” (Gil Scott-Heron). Meine Mutter (Jahrgang 1957) war gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann, mein Vater (Jahrgang 1942) gelernter Elektriker. Geboren und aufgewachsen bin ich im Bergischen Land nahe Köln in NRW, wo auch mein Vater herkam. Meine Mutter ist als erste in der BRD in Köln geboren, ihre Eltern, die aus Sachsen kamen, haben in den frühen 1950er Jahren rübergemacht. Nie verheiratet haben sich meine Eltern (beide wie schon ihre Eltern konfessionslos) kurz nach meiner Geburt getrennt, so dass ich bei meiner alleinerziehenden Mutter gemeinsam mit meinem älteren Bruder (der einen anderen Vater hat) aufwuchs. Bis zu meiner Volljährigkeit war meine Mutter weitestgehend alleinerziehend. Wenn Männer im Haushalt waren, dann hat das oft zu Konflikten geführt, in die häusliche Gewalt, Alkoholmissbrauch und emotionaler Missbrauch involviert waren.
Mein einziges Glück war, dass meine Mutter viel Wert darauf legte, dass ich eine gute Schullaufbahn hinlegen und im Anschluss studieren würde („Dann hast Du es später leichter als ich.“). Ich habe den größten Respekt vor dieser so starken Frau, die nicht nur all den Widrigkeiten und der Gewalt getrotzt hat, die sich nicht nur nebenher noch in Ortsvereinen wie etwa der AWO engagierte, sondern vor allem ganz alleine ihre zwei Söhne erzogen hat, dafür sorgte, dass sie Anstand und Manieren, einen Schulabschluss, einen Führerschein und wenigstens eine Ausbildung gemacht haben.
Sie selbst hatte es nicht so leicht und ist von ihrem Vater nach dem Realschulabschluss rausgeworfen worden mit dem Argument, sie könne ja jetzt ihr eigenes Geld verdienen. Aber leichter gesagt als getan, hatte sie mit mir dann mit einem störrischen Pubertierenden zu tun, der lieber auf die Hauptschule gegangen wäre, auf der all seine Freunde waren. Dennoch ging ich nach viel heftigem Streit und rohen Zwiebeln zunächst aufs Gymnasium, wiederholte die 8. Klasse, hätte diese nochmal wiederholen müssen, wäre ich dann nicht zunächst auf die Realschule gegangen. Dort fing ich mich, machte den Abschluss mit Qualifikation für das Gymnasium und erlangte dann im Anschluss mein Abitur – als erster und einziger meiner Generation in meiner Familie, soweit sie mir bekannt war. Ganz so einfach ist es nämlich dann doch nicht. Mein Onkel mütterlicherseits hätte nach dem Abitur studieren können, hätte er sich nicht so aufmüpfig gegenüber den DDR-Autoritäten verhalten. Und wie ich viel später erfuhr, haben aus der Familie meines Vaters, die 10 Kinder gewesen sind, ebenfalls einige meiner Cousins und Cousinen Abitur gemacht und sogar studiert. Allerdings waren diese für mein eigenes Leben nicht existent.
(2) Was waren für Dich besondere Schwierigkeiten, die mit Deinem Hintergrund zu tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?
Manche der Schwierigkeiten werden mir erst jetzt, als Postdoc, wirklich bewusst. Insofern hat auch mich sicherlich eine Naivität davor bewahrt, es gar nicht erst zu versuchen. Auf dem Gymnasium stand mir im Weg das ständige Gefühl, da nicht hinzugehören – zwischen Mitschülern, die mit mehr Sicherheit auftraten, deren Eltern Ärzte und was wusste ich damals schon waren. Mitschüler, die wohlbehütet in Einfamilienhäusern wohnten, anstatt in Genossenschaftswohnungen, die vielleicht mit Freunden Wissensspiele spielten, anstatt mit den Nachbarskindern im Fluss Eimer zu rauchen, die vielleicht Klavier übten, anstatt Wände zu bemalen, die Schach lernten anstatt Mofas zu knacken. Die Schwierigkeiten fangen, denke ich, bereits damit an, dass man es gar nicht erst auch nur als eine Möglichkeit in Erwägung zieht, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen. Macht man dies (durch ganz viel Glück), dann gehen die Schwierigkeiten weiter: mein ganzes Studium über habe ich nebenher arbeiten gehen müssen, um es finanzieren zu können. Von einem „Stipendium“ hatte ich nie etwas gehört. Sicherlich hat es irgendwo auch mal Hinweise auf Stipendien gegeben, aber da geht das Problem eben weiter. Man achtet auf so etwas nicht, weil man es nicht versteht, nie davon gehört hat und es kein Teil der grundsätzlich in Erwägung gezogenen Optionen ist. Und wenn niemand aus Familie, Freundeskreis oder etwa unterstützenden Lehrern einen darauf hinweist oder sogar ermutigt, es zu versuchen, dann gibt es diese Möglichkeit schlicht nicht. Schließlich war und ist auch die Angst ein Hindernis, die eigene Herkunft überhaupt preiszugeben. Die Angst davor, sich bloß zu stellen, oder dazustehen als jemand, der Vorteile erlangen will, Angst davor, nicht für Verdienst, sondern aus Mitleid anerkannt zu werden.
(3) Was hat Dir dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?
Ich denke eine sehr wichtige Entscheidung war, nach 6 Semestern das Lateinstudium zu beginnen (nachdem ich das Latinum nachgeholt hatte), wobei auch hier vor allem das Glück vorherrschte, da ich einfach Spaß an Latein hatte. Die Wichtigkeit dieser Entscheidung wurde mir erst klar, als ich lernte, dass Latein ein klassisches Aufsteigerfach ist. Man kann gut werden rein durch Fleiß und zugleich lernt man viele wichtige Kompetenzen ebenso wie viele zentrale Bildungsinhalte über Geschichte, Kunst, Literatur und auch Philosophie kennen. Es ist schon ironisch, dass gerade Latein das Schulfach gewesen war, das mich durch ein „ungenügend“ auf dem Zeugnis neben mehreren „mangelhaft“ sitzenbleiben ließ.
Weiter hat mir geholfen die Haltung „Da musst du halt durch!“. Kraft dafür habe ich in entmutigenden Situationen gezogen und ziehe ich immer noch aus – Rapmusik. Auch wenn die Rap- und Hip Hop-Kultur selbst intern problematische Formen der Diskriminierung wie Sexismus perpetuiert und sich unbedingt weiter entwickeln muss (siehe aber etwa: Ebow, Josi, Liz, Juju, Nura), so ist sie doch auch eine starke Quelle des Empowerment.
Insofern die Schwierigkeiten des Aufstiegs in dem Unwissen über die Welt der Gebildeten bestand, haben mir einige Freundschaften mit Kommilitoninnen und Kommilitonen aus dem sogenannten „Bildungsbürgertum“ geholfen, sowie der Eintritt in den Universitätsmusikchor. Hier habe ich mich auch lange Zeit versucht, nach oben hin zu assimilieren voller Begeisterung für die Welt der Kunst, Musik, Literatur und Bildung. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, wie ich zum ersten Mal das Familienhaus eines guten Freundes betrat: die Wände waren mit Kunst seines Vaters gesäumt, Regale voll mit Klassikern der Literatur in Edelausgaben – und dann dieser Flügel im Wohnzimmer. Es ist eine schöne Erinnerung, auch wenn mir diese Erfahrung zugleich eine Schicht dessen aufdeckte, was ich nicht genossen hatte. Mit dieser Begeisterung ging nun aber eine starke Abgrenzung gegenüber meinem Herkunftsmilieu einher, die lange anhielt und natürlich auch zu vielen Konflikten führte. Hier hat mir die Lektüre der Rückkehr nach Reims sehr geholfen, das mir wiederum von einer Bekannten empfohlen wurde, als ich bereits promoviert war. Das war einige Jahre nach der Veröffentlichung der deutschen Fassung, die damals in allen Feuilletons besprochen und sicherlich von der gesamten deutschen Bildungsbürgerschicht bereits gelesen worden war. Eine weitere Lektüre die mir erst kürzlich weiter Klarheit verschafft hat ist die Hillbilly Elegy. Insbesondere das Kennenlernen der adverse childhood experience (ACE) und den damit einhergehenden Problemen, die natürlich auch einen Bildungsaufstieg weiter erschweren, hatte für mich wichtigen aufklärenden Charakter.
(4) Gibt es besondere Einsichten oder Perspektiven, die Du Deinem Hintergrund verdankst und die für Deine philosophische Forschung oder Lehre von besonderem Wert sind?
Zunächst ist man gezwungen, viel mehr Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen und darüber nachzudenken. Ich konnte mich in Widerständigkeit üben. Außerdem hatte ich nichts zu verlieren, weshalb ich vielleicht oft auch risikoaffiner an Dinge herangegangen bin. Philosophiespezifische Vorteile sehe ich gar nicht so sehr, zumindest nicht für die Forschung. In der Lehre glaube ich, einen Blick zu haben für Studierende, die vielleicht aus ähnlichem Milieu kommen, bzw. ganz allgemein einen Blick zu haben für systemisch benachteiligte Gruppen.
Thomas Meyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.