Zu meinem nicht-akademischen Familienhintergrund
Ob die Tatsache, dass ich ein 1st-Generation-Akademiker bin, für mich eine Rolle spielt? Sicher. Aber welche? Was hat meine nicht-akademische Herkunft mit und aus mir gemacht?
„Akademiker“ – wenn mein Vater (Georg Meggle: 1900 – 1963) dieses Wort in meiner Gegenwart sagte, konnte ich stets ein ungewöhnlich hohes Maß an Respekt mitschwingen hören. Und auch heute noch entnehme ich dem damaligen Klang dieses Wortes zweierlei: zum einen das Bedauern eines Menschen, der weiß, dass diese Anerkennung ihm selber unwiederbringlich versagt bleiben wird; und zum anderen den Appell, dass ich mir auch ja stets der mit diesem Wort verbundenen Chance bewusst sein möge.
Die Jugend meines Vaters muss, auch wenn ich ihn über diese nie hatte klagen hören, eine harte gewesen sein. Maria Meggle (1878-1945), seine Mutter, brachte drei Söhne zur Welt – von drei verschiedenen Vätern. Die ersten beiden unehelich. Damit für die beiden jüngeren eine bessere Schulbildung möglich ist, muss der Älteste, mein Vater, von früh an – gleichsam als Ersatz-Versorger – das Brot verdienen. Und was tut mein Vater? Was ihm an Schule fehlt, bringt er sich selber bei. In Abendkursen und als zielstrebiger Autodidakt. Das Geld für diese Kurse verdient er mit Nachhilfestunden für andere. Den Abschluss einer Höheren Schule erreicht er damit freilich nicht. Von 1914 bis 1936 arbeitet er in Kempten als Maschinensetzer im Verlag Kösel & Pustet, dann als einfacher Angestellter im Messungsamt und nach dem Kriegsdienst bis zu seinem Tod (1963) im Finanzamt.
Sein Lebensinhalt hatte mit seiner Erwerbsarbeit nichts zu tun. Mit Finanzen am allerwenigsten. Dafür hatte er aber etwas, was den meisten Menschen fehlt: Eine Sendung. Sein ganzes Engagement gehörte dem sogenannten Laienapostolat. Die katholische Kirche sollte nicht nur durch den Klerus, vielmehr von allen Gläubigen, also auch den Laien, aktiv mit-bestimmt werden. Diesem Ziel, im übrigen auch ein Programmpunkt des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), widmet er all seine Kraft.
Vor ihrer Heirat (1939) hatte meine Mutter (Paulina Meggle, geb. Hummel (1902-1983)), die lediglich die „Sonntagsschule“ in dem Kemptener Stadtteil Steufzgen besucht hatte, zunächst als Verkäuferin gearbeitet und dann als Dienstmädchen bei verschiedenen „Herrschaften“. Diese waren von sehr unterschiedlicher Natur. Von guter, aber auch von weniger guter. Mit ihrer letzten ‚Herrschaft‘ verband sie bis an ihr Lebensende eine innige Freundschaft. Die Protestantin Charlotte Bonenberger hat gewiss nie vergessen, dass ihr katholisches Paulchen ihrem Mann, einem bekannten kommunistischen Verleger, als Nazi-Schergen ihn abholen wollten, mit einer Notlüge das Leben gerettet hat.
Papas Akademikerträume für mich blieben von seinen kirchlichen Neigungen nicht unberührt. Sein Megatraum war, dass ich Jesuit – gar einer ihrer Generale – werden würde. Deshalb wurde ich auch auf den Namen Ignatius von Loyola getauft. Von diesem Traum hatte ich als kleiner Junge meinen Vater selber reden gehört. Da in den ersten Nachkriegsjahren in einen Teil unserer Wohnung Flüchtlinge einquartiert waren, stand mein Bett lange im Elternschlafzimmer. Und da bekam ich eines Nachts mit, wie Papa von diesem Traum sprach. Mamas Antwort: „Daraus wird nix.“ Ich weiß nicht, ob das nur als eine Vermutung oder schon als ihr Veto gemeint war. Papas Antwort war wie so oft: „Nun, in Gott’s Namen.“ Aber immerhin: Theologie war, neben Philosophie und Germanistik, eines der Fächer, mit denen ich in München mein Studium begann. Doch das hat mein Vater ja schon nicht mehr erlebt.
Aber der erste Schritt in Richtung Academia war nicht das Studium, sondern das Gymnasium. Und dort hätte das kleine Georgle dem Traum des großen Vater-Georg-Meggle fast schon bei der ersten Gelegenheit ein unrühmliches Ende bereitet. Ich fiel gleich in der ersten Klasse in Latein durch. Woran das lag, das kann ich mir heute selber nicht mehr erklären. Es gab keine Prügel (die gab es zu Hause freilich ohnehin nie, und in der Haubenschloss-Volksschule auch nur von einem mir verhassten Kapuzinerpater im Religionsunterricht); auch kein Geschrei. Meinerseits sicherlich Tränen. Doch was mich am stärksten schmerzte: Ich spüre, wie eine abgrundtiefe Traurigkeit meinem Vater das Atmen schwer macht. Natürlich wollte ich, welche Schande, nicht in die alte Volksschule zurück, verspreche Besserung und Fleiß und weiß Gott noch alles. Mein Vater fragt meine Klassen- und Lateinlehrerin Frau Miller um Rat. Und diese erklärt: Es habe keinen Sinn, mich auf dem Gymnasium zu belassen; bei der nächsten neuen Sprache, dem Altgriechischen in der Quarta, würde ich eh gleich wieder versagen.
Mein Vater belässt mich auf dem Gymnasium. In der Quarta bekomme ich Frau Miller in Griechisch – und mein Geist erwacht: „Pass auf, Dir werd‘ ich’s zeigen!“ Von da an hatte ich in Latein und Griechisch fast nur noch ne 1. Und im Nachhinein bin ich dieser im Grunde recht lieben alten Lehrerin für ihren damaligen „Rat“ sogar dankbar. Ohne diesen wäre ich wohl im Mittelmaß hängen geblieben. Aber dass mein Vater im Jahr vor meinem Abi auf dem Weg zur Kirche auf einer Eisplatte ausgerutscht und in der darauffolgenden Nacht an den Folgen einer Gehirnblutung gestorben ist, er mit seinem Sterben also nicht bis zu diesem Sieg seines Sohnes hat warten können, dies machte ich ihm damals – so absurd das auch klingen mag – tatsächlich zum Vorwurf.
Auf dem Humanistischen Gymnasium Kempten gab es zu meiner Zeit ein ziemlich klares Zwei-Klassen-System. Die a-Klassen waren für die Stadtschüler reserviert, die b-Klassen für die Schüler vom Land. Die Stadt-Schüler, das waren in der Mehrzahl die Kinder von Ärzten, Rechtsanwälten und anderen Honorationen. Die Land-Schüler waren meist Bauernkinder, die das Schuljahr über großteils im Knabenseminar St. Magnus untergebracht waren, einer von der Kirche finanzierten Einrichtung zur Förderung von Priesterkandidaten. Für viele Bauernfamilien war das die einzige Chance, auch ihren Buben eine gute Ausbildung und so auch einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Meine Eltern gehörten nun aber weder zu der Kemptener Oberschicht noch zu der Allgäuer Bauernschaft. Und so wurde ich ein paarmal, wenn eine der beiden Klassen zu wenig Schüler hatte, in eben diese verschoben. Je nach Bedarf. Diese Erfahrung hat mein Klassenbewußtsein erheblich geschärft.
Jetzt ein großer Zeitsprung. Ich bin an der Uni Konstanz. Mich erreicht mein erster Ruf auf eine Professur, auf eine für Logik und Wissenschaftstheorie am Philosophischen Institut am Domplatz in Münster. Und schon werde ich von einem Konstanzer Philosophie-Kollegen eingeladen, für den ich bis dahin als bloßer Mitarbeiter an einem DFG-Projekt, ich erinnere mich wohl, quasi nicht existent war. Und als ich in Münster ein paar Jahre später den Ruf auf eine C4-Stelle nach Saarbrücken erhalte, gratuliert mir ein Juristen-Kollege doch echt mit dem Spruch: „Klasse, jetzt bist Du als Ordinarius ja endlich voll satisfaktionsfähig.“ Offenbar war ich schon damals gegen solche Kasten-Rituale hyper-allergisch. Es sind Rituale, die sich als inklusiv ausgeben (jetzt bist Du ja einer von uns) und genau dadurch ihre strukturelle Exklusion (der niedrigen Kasten, zu denen auch ich bis dahin gehörte) maximieren.
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Waren all diese prä- und frühakademischen Empfindlichkeiten meinerseits lediglich Äußerlichkeiten? Durch meine nicht-akademische Herkunft geprägte Entwicklungen, die nur den Stil, nicht so sehr die Thematik meiner philosophischen Einsätze betrafen? Prägt mein nicht-akademisches Elternhaus nur das wie, nicht auch das was meines eigenen akademischen Wirkens?
Das mag allenfalls für die Zeit meiner rein akademischen Qualifikationsarbeiten gegolten haben. Aber sicher nicht mehr für meine in den 80er Jahren in Münster beginnenden philosophischen Interventionen danach, sprich: nicht für meine Arbeiten zur Logik der Abschreckung und des Terrorismus, zur Theorie des Gerechten Krieges und deren Anwendung auf die so genannten Humanitären Interventionen, und schließlich für meine Positionierung In Sachen Deutschland, Israel, Palästina und meine jahrelangen Bemühungen um eine Klärung des Antisemitismus-Begriffs. Und sicher auch nicht für die mit diesen Themen verknüpften Leipziger Universitätsveranstaltungen, mit denen ich die Grenzen zwischen dem berühmten universitären Elfenbeinturm einerseits und einer kritisch reflektierenden Öffentlichkeit andererseits aufzubrechen versucht hatte.
Wenn ich jetzt (Sommer 2022) auf meine Anfänge zurückblicke, so komme ich nicht um die Feststellung herum, dass von dem idealisierten Academia-Bild, das meinem Vater vorgeschwebt sein muss und auch mich sehr lange geprägt hat, nicht mehr viel übrig ist. Meine äußeren Erfolge sind nur die eine Seite; aber dieser akademische ‚Aufstieg‘ ist seit über 30 Jahren auch mit einer wohl nie mehr endenden Kette von Anfeindungen und Demütigungen verbunden. „Akademiker“ – dieses Wort hat für mich seinen anfänglichen Glanz inzwischen gänzlich verloren. Ebenso geschwunden ist mein Glaube an die Institution, die, wie es früher mal hieß, als Alma Mater uns Akademiker nähren und Kraft geben soll: die Universität.
Ich erinnere mich an meine Sonntagsnachmittags-Runden mit meinem Vater – und drehe, ihn an meiner Seite spürend, noch eine weitere Runde. Der akademische Traum meines Vaters war ja für mich gedacht, nicht für ihn selbst. Er selber brauchte ihn nicht. Er war auch ohne akademische Weihen ein aufrechter und mutiger Mann.
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Georg Meggle ist Emeritus an der Universität Leipzig und seit 2010 in den Wintersemestern jeweils Gastdozent an Universitäten in Kairo. Weitere autobiographische Verstehensversuche in den Kapiteln 67 bis 75 des OpenAccess e-Books https://eplus.unisalzburg.at/obvusboa/content/titleinfo/6202655 .