Wie würden Sie Ihren sozialen Hintergrund beschreiben?
Ich bin als ältestes von drei Geschwistern in einer westdeutschen Großstadt aufgewachsen. Meine Mutter hat zunächst viel Haus- und Familienarbeit geleistet. Als die Kinder älter waren, hat sie dann etwas dazu verdient, zeitweise als Reinigungskraft, später als Tagesmutter. Mein Vater ist ein ziemlicher Aufsteiger. Er musste allerdings auch recht weit unten anfangen. Mit zehn Jahren Vollwaise und mittellos, ist er in verschiedenen Pflegefamilien und Kinderheimen in West- und Süddeutschland aufgewachsen. Die Hauptschule hat er mit 14 verlassen (müssen) und mit 18 hat er eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann abgeschlossen. Später hat er sich weiter hochgearbeitet, über den zweiten Bildungsweg die Fachhochschulreife nachgeholt und an einer FH Soziale Arbeit studiert. Je nach Definition bin ich, im Gegensatz zu ihm, also auch kein Akademiker der ersten Generation. Mein sozialer Hintergrund ist dennoch, denke ich, in einigen Dimensionen nicht der, den man sich unter einem klassischen akademischen Background vorstellt.
In Anbetracht der geringen finanziellen Mittel, die meiner Familie zur Verfügung standen, haben wir in einer überraschend wohlhabenden Gegend gewohnt. Umgeben von großzügigen Eigenheimen gab es dort auch zwei Wohnungen, die der Stadt gehörten und, weit unter Marktpreisen, an Familien mit geringem Einkommen vermietet wurden. Eine dieser Familien waren wir. Die Wohnung hatte eine seltene Kombination von Vorteilen: geringe Miete bei gleichzeitiger Lage im Einzugsgebiet guter Schulen. Aufgrund dieser Konstellation bin ich immer von vielen Mitschüler:innen umgeben gewesen, die aus Familien mit spürbar höherem sozio-ökonomischen Status kamen. Diese Erfahrung war nicht durchgängig positiv. Ich habe mich oft nicht so recht dazugehörig und unter spezieller Beobachtung gefühlt. Besonders nervös war ich, wenn ich bei Schulfreund:innen „aus gutem Haus“ eingeladen war, auch wegen des enormen Respekts, den ich meine Eltern diesen Familien habe entgegenbringen sehen. Wenn sich dann, in diesen guten Häusern, der Professorenvater schonmal nebenbei über Arbeitslose mokiert hat (während Bekannte meiner Eltern arbeitssuchend waren) oder die Lehrerinnenmutter eine abfällige Bemerkung über die Putzfrau eingestreut hat (während meine Mutter Treppenhäuser geputzt hat), habe ich das als sehr kränkend empfunden. Ich glaube, das hat in mir früh so etwas wie Klassenbewusstsein und einen vagen Wunsch, „es denen zu zeigen“ hervorgebracht.
Kernaspekt meines Unterfangens, es (unklar, was genau) denen (unklar, wem genau) zu zeigen, war, mich durch gute schulische Leistungen hervorzutun. Bei uns zu Hause wurde ohnehin großer Wert auf die Schule gelegt und ich war es deshalb gewöhnt, viel zu lernen. Die gewünschten Ergebnisse stellten sich auch weitestgehend ein; ich war meistens Klassenbester. Interessant waren die Reaktionen meiner Eltern. Einerseits waren sie extrem stolz. Anderseits haben auch die besten Noten nicht ausgereicht, um ihnen die Unsicherheit zu nehmen, dass ich vielleicht doch nicht so ganz in das Milieu hineinpasse, in dem ich mich nun mal befand. Den Vorschlag meiner Mutter, mich erstmal auf die Realschule zu schicken, konnte meine Grundschullehrerin genauso wenig nachvollziehen, wie ich neun Jahre später die Empfehlung meines Vaters, nach dem Abitur doch zunächst eine Ausbildung als Berufskraftfahrer zu machen, um etwas in der Hand zu haben. Nicht, dass irgendetwas grundsätzlich gegen Realschulen oder die Berufskraftfahrerei spräche. Aber beides waren eher ungewöhnliche Ratschläge für Schüler mit meinem Notenschnitt.
Was waren für Sie besondere Schwierigkeiten, die mit Ihrem Hintergrund zu tun hatten oder haben?
Hauptschwierigkeiten für mich waren der Mangel an Geld und der Mangel an sozialem Kapital. („Mangel“ ist hier jeweils relativ zu verstehen, da ich meinen sozialen Hintergrund am privilegierteren Ende des breiten Spektrums an nicht-universitären Hintergründen verorten würde).
Geld. Dass Geldmangel auch ganz direkt den Bildungschancen schaden kann, habe ich erst recht spät, in der 11. Klasse, zu spüren bekommen. Vorher hatte er sich eher außerhalb der Schule (wenig bis kein Geld für Musikinstrumente, Sportvereine oder Reisen) bemerkbar gemacht. Mit Beginn der Oberstufe gingen dann aber die Kinder wohlhabender Eltern mehr oder weniger geschlossen ins Ausland. Zurück blieben die, die sich so etwas nicht leisten konnten. Danach konnten die einen gut Englisch, die anderen eben nicht. Später an der Uni gab es zum Glück BAföG. Aber trotz (beinahe) Höchstsatz, Nebenjob und einem WG-Zimmer für 150€, war ich am Monatsende meistens pleite. Das hat bei mir zu einem Gefühl des Gehetztseins geführt. Die Regelstudienzeit des Bachelors zu überschreiten war keine Option, mit jedem zusätzlichen Semester sinkt der Rabatt auf die BAföG-Schulden. Auch Master und Promotion mussten so schnell wie möglich durchgezogen und zu 100% durch Stipendien gedeckt werden. Lief das eine aus, musste woanders Nachschub her, damit bloß keine Lücke entsteht. Trotz seiner positiven Konnotationen hat ein, sich daraus zwangsläufig ergebender, „zielstrebiger“ Studienverlauf auch handfeste Nachteile. Dass bei der Vergabe von Stellen oft auf die Anzahl der Publikationen pro Jahr nach Abschluss der Promotion geschaut wird, finde ich vom Ansatz her richtig. Problematisch finde ich die Wahl des Stichtags: sie bevorzugt die, die die Mittel haben, sich auf dem Weg zum Doktortitel auch mal ein paar Jahre mehr Zeit zu lassen, gegenüber denen, die diese Möglichkeit nicht haben. Wer den Weg vom Studienanfang bis zum Doktortitel in zwölf statt acht Jahren gehen kann, hat anderthalbmal so viel Zeit sein Publikationsportfolio auf- und auszubauen, bevor es auf den Jobmarkt geht.
Soziales Kapital. Im Rückblick finde ich es faszinierend, was man in Schule und Gymnasium, selbst wenn sie gut sind, alles nicht lernt. Ich hatte ein prima Abi, aber wenig Ahnung, wie man einen Lebenslauf verfasst oder eine Email an eine:n Professor:in schreibt (sind die Grüße jetzt freundlich, lieb, herzlich oder die besten? Oder doch lieber erstmal mit „hochachtungsvoll“ auf Nummer Sicher gehen?). Dem gutgemeinten familiären Rat meinen CV bunt zu gestalten („dann werden sie direkt auf dich aufmerksam!“) bin ich zum Glück nicht lange gefolgt. Meine Bekannten aus klassischen Akademikerfamilien habe ich immer um ihre Wissensressourcen in solchen Belangen beneidet. Die kannten immer jemanden, der sich schonmal auf dieses oder jenes beworben hatte, und wussten einfach, was man bei einem Vorstellungsgespräch trägt, wie man ein Praktikum bekommt oder worauf es bei einem Anschreiben ankommt. Zu meinem von Hause aus schlechtem Netzwerk kam bei mir zunächst auch eine gewisse Unfähigkeit zum Netzwerken hinzu. Ich habe lange gebraucht zu verstehen, dass die Teilnahme am Konferenzdinner für Karrierezwecke bisweilen wichtiger ist als die Teilnahme an den eigentlichen Vorträgen. Ich habe noch länger gebraucht, dem Verständnis auch Rechnung zu tragen und mich nicht vor dem Abendessen zu scheuen. In meiner Familie ging man nicht nur nicht ins Theater, sondern auch nicht ins Restaurant. Neben der Sorge, mich dort durch schlechte Umgangsformen zum Deppen zu machen, hatte ich immer die Befürchtung, nicht mitreden zu können. Die Erkenntnis, dass nicht alle Professor:innen ausschließlich über Wein und Opern sprechen wollen, hat sich bei mir erst relativ spät eingestellt.
Was hat Ihnen dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden?
Geholfen haben mir, neben den bereits genannten Aspekten, vor allem Mentor:innen. Leute, die mir z.B. klar gemacht haben, dass man auch ein Stipendium oder einen Platz an einer internationalen Top-Uni bekommen kann, wenn man einfach gute philosophische Arbeit leistet, und nicht nebenher noch im Bundesjugendorchester und der Hockeynationalmannschaft spielt. Auch habe ich Lehrveranstaltungen als umso angenehmer empfunden, je mehr es dort ganz konkret um die zu lesenden Texte und die darin enthaltenen Argumente und Thesen ging, und je weniger um das Assoziieren kultureller Referenzen. Meiner Erfahrung nach ist dieser Fokus auf philosophische Sachfragen (vermutlich ein theoriebeladener Begriff) innerhalb der analytischen Philosophie stärker ausgeprägt als außerhalb.
Der Verfasser dieses Beitrags ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer deutschen Universität.