Gen Eickers

Mein Dasein als Philosoph*in der ersten Generation nehme ich nicht per se als etwas Schlechtes wahr; ich bin sogar froh. Vor allem um das Aufwachsen auf dem Land, das sehr verkörperte Verständnis von Leben und Arbeit, und das mir vermittelte Verständnis dessen, was lebensnotwendig ist. Jedoch sind natürlich strukturelle Probleme damit verbunden. Diese würde ich als Zugangs-Probleme zu spezifischem Wissen und habituellen Zugehörigkeitsproblemen spezifizieren. Die Probleme können sich dann wiederum materiell auswirken: in der Schule z.B. als Noten, später in den Finanzen, und durchgängig auch psychisch. Mein familiärer Hintergrund ist einerseits landwirtschaftlich und andererseits handwerklich geprägt. Meine Kindheit habe ich oft damit verbracht, mit meinem Großvater auf dem Traktor in den Wald zu fahren um dort Waldarbeiten zu erledigen. Der landwirtschaftliche Betrieb war jedoch bereits größtenteils eingestellt als ich Kind war; das hatte sicherlich die Auswirkung, dass von mir z.B. nicht erwartet wurde, den Betrieb weiterzuführen. Im Gegenteil: Bildung war sehr wichtig, und vor allem auch dadurch motiviert, dass einigen Familienmitgliedern Bildung versagt wurde – z.T. als Folge von Vertreibung, und z.T. aufgrund Erwartungen an bestimmte Geschlechter-Rollen.

Mein sozialer Hintergrund hat eine Rolle gespielt bei verschiedenen Entscheidungen und Schwierigkeiten auf meinem Bildungsweg: mir wurde zum Beispiel empfohlen, das 12jährige Gymnasium zu machen – zu der Zeit ein Modellversuch in Baden-Württemberg; das Gymnasium wäre allerdings ein anderes gewesen als das, auf das alle anderen „vom Dorf“ gingen und kam entsprechend für mich und meine Familie nicht in Frage. Im Nachhinein denke ich, vielleicht hätte das 12jährige Gymnasium die Langeweile, die ich oft in der Schule hatte und die beizeiten auch zu starkem Leistungsabfall beigetragen hat, etwas abfedern können. Gleichzeitig bin ich mir bewusst darüber, dass Gymnasien ohnehin nicht unbedingt ‚lower class friendly‘ sind. Meine Noten haben sicherlich nicht nur durch die Langeweile gelitten, sondern auch durch eine mit Leistungserwartungen und Anforderungen durchtränkte Lernumwelt, die auf Kosten der mentalen Gesundheit geht.

Nach dem Abitur entschied ich mich zunächst für ein Staatsexamensstudium – dies vermittelte mir eine Art Sicherheit, die ich benötigte, um mir selbst ein Studium zu erlauben: die Bezahlung des Lehrer*innen-Berufs lag über dem für mich Gewohnten, und es bestanden Aussichten auf dauerhafte Stellen. Wobei auch hier Listen nach Abschlussnoten erstellt wurden, die eine Aussagekraft über die Kompetenz und Motivation der angehenden Lehrer*innen vortäuschten. An der Universität, an der ich studiert habe, pendelten sehr viele der Studierenden täglich bis zu zwei Stunden vom Land; ich auch, bis ich mir durch Bafög, Halbwaisenrente, und Minijob ein Zimmer finanzieren konnte. Ein Stipendium war nicht auf meinem Radar: als studierende Person dachte ich, Stipendien wären nur für Menschen aus Familien mit hohen und sehr guten Bildungsabschlüssen oder Menschen, die schon jahrelang in einer politischen Partei aktiv sind (und dieses Bild wird eben auch ein Stück weit durch die Stipendienlandschaft vermittelt). Außerdem war ich neben dem Studium damit beschäftigt, zu lernen dialekt-frei zu sprechen; Dialekt war an der Uni in Baden-Württemberg ein eindeutiger Marker für eine andere Klassen- oder Bildungszugehörigkeit.

Mein Interesse an philosophischen Fragen war lange schon groß; mich trieben insbesondere auch Fragen um soziale Gerechtigkeit im alltäglichen Denken und Handeln um. Zur Promotion kam ich allerdings vor allem dadurch dass ich von Mentor*innen dazu angehalten und ermutigt wurde – ich wäre nicht selbst auf die Idee gekommen, mich bei einer Graduiertenschule zu bewerben; meine Zeugnisse erschienen mir etwas zu punk, die Hürden erschienen mir viel zu groß und ich erschien mir nicht zugehörig (trotz mittlerweile größtenteils dialekt-freien Sprechens).

Während meiner Promotion erschienen mir viele der ungeschriebenen sozialen und akademischen Regeln fremd und unzugänglich: Wie verhält man sich bspw. bei einer Konferenz? Wieviel Geld kann man beantragen? Wieso besitzen viele andere Promovierende so viele Bücher? Zudem hat das Nicht-Vorhandensein einer finanziellen Absicherung dazu geführt, dass ich meine Promotion innerhalb von 3 Jahren abgeschlossen habe – also genau in der Zeit meines Stipendiums. Das hatte keine negativen Auswirkungen auf die Dissertation, jedoch hat es natürlich zu erhöhtem Druck und Stress geführt, und die Explorationsphase fiel entsprechend kurz aus.

Die strukturellen Probleme, mit denen ich während meiner Bildung und Promotion konfrontiert war, haben mit Eintreten in die Postdoc-Phase nicht schlagartig aufgehört. Einiges zieht langfristige „Begleiter*innen“ nach sich: das Gefühl, nicht genug zu tun; das Gefühl, eigentlich keinen richtigen Job zu haben; das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Insbesondere in Deutschland kommen natürlich die strikten Regeln zu akademischen Karrieren erschwerend hinzu und befördern Prekarisierung und finanzielle Unsicherheit. Sicherlich spielt bei mir – wie bei einigen anderen – nicht ausschließlich der soziale Hintergrund eine Rolle diesbezüglich, sondern auch andere Aspekte meiner Identität wie z.B. offen gelebte Queerness. Der soziale Hintergrund bzw. das Dasein als Philosoph*in erster Generation ist bei einigen Philosoph*innen nur einer von mehreren Marginalisierungsaspekten. Siehe z.B. Maren Behrensen’s Beitrag: während Maren Behrensen der*die einzige deutsche trans und einzige nicht-binäre Philosoph*in mit einer unbefristeten Stelle in Europa ist, bin ich – soweit ich das überblicken kann – die einzige trans und nicht-binäre Person in der Philosophie mit einer (Postdoc-)Stelle in Deutschland. Schaut man sich Statistiken zu bspw. Erwerbslosigkeit von trans und nicht-binären Personen in Deutschland an, ist das leider nicht verwunderlich. Die akademische Philosophie in Deutschland (wie vermutlich einige andere Disziplinen auch) hat einen langen Weg vor sich, um gerechtere Verhältnisse herzustellen, die nicht nur Philosoph*innen der ersten Generation zu Gute kämen, sondern auch anderen unterrepräsentierten Personengruppen in der Philosophie und insbesondere mehrfach marginalisierten Personen. In manchen anderen Disziplinen bzw. in anderen Ländern werden marginalisierte Personen gezielt zur Bewerbung aufgerufen, und Marginalisierungsthemen (in der Philosophie) werden gezielt gefördert und berücksichtigt. Hier geht es nicht um eine zwanghafte Diversifizierung der Stellen sondern auch um ein Umdenken hinlänglich der Fragen, die wir in der Philosophie stellen und unserer Definition dessen, was Philosophie ist und was sie sein könnte.

Gen Eickers ist Postdoc an der University of Education Ludwigsburg.

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