Johannes Steizinger

Ich bin im ländlichen Raum Österreichs aufgewachsen und komme aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Mein Vater ist Bäckermeister, hat jedoch den Großteil seines Lebens in einer Fabrik gearbeitet, wo er sich gewerkschaftlich organisiert und zum freigestellten Betriebsrat hochgearbeitet hat. Meine Mutter ist ausgebildete Köchin und hat als Kellnerin, Reinigungskraft und Heimhilfe im Altersheim gearbeitet. Der bürgerliche Bildungskanon spielte in meinem Elternhaus keine Rolle. Meinen Eltern war es jedoch wichtig, dass meine Brüder und ich eine gute Ausbildung genießen—eine Einstellung, die im sozialdemokratischen Österreich der 1970er kultiviert wurde. Ich hatte das große Glück, dass ich an entscheidenden Stellen meines Bildungsweges von Mentor:innen gefördert wurde. In der ersten Klasse Volkschule machte eine Lehrerin meine Eltern darauf aufmerksam, dass ich studieren sollte und eröffnete mir damit eine Möglichkeit, die sozial nicht unbedingt vorgesehen war. 

Es war die Sprache, anhand derer ich seit meinem Eintritt in eine Bildungslaufbahn immer wieder auf die Bedeutung von Klassenunterschieden gestoßen wurde. Mein Deutschlehrer machte sich in der Unterstufe des Gymnasiums vor der gesamten Klasse über mich lustig, weil ich ein alltägliches Wort im Idiom meiner Herkunftsklasse aussprach. Und meine Klassenlehrerin machte sehr deutlich, dass ich aufgrund meiner etwas roheren Verhaltensweisen, die sie auf meine fehlende Erziehung zurückführte, keinen Platz in der bürgerlichen Idylle eines humanistischen Gymnasiums habe. Diese Erfahrungen stachelten zum einen den Rebellen in mir auf, zum anderen bewirkten sie starke Anpassungsleistungen, um mir den Wunsch eines intellektuellen Lebens zu erfüllen. Als ich mit 18 Jahren zum Studieren nach Wien ging, ließ ich das Idiom meiner Eltern hinter mir und erfand mich sprachlich komplett neu. Manchen war aber auch das nicht genug. Ein bekannter deutscher Professor riet mir auch die letzten Reste meine österreichischen Akzents zu eliminieren, um in Deutschland eine Chance auf eine Professur zu haben. 

Diese fortlaufende Anpassung an immer feinere Unterschiede und Besonderheiten des Bildungsbürgertums bewirkte eine tiefe Entfremdung von meinem sozialen Hintergrund. Die Erfahrungswelt meiner Eltern spielt im universitären Kontext keine Rolle. Das in der Kindheit und Jugend erlernte Alltagswissen wurde deshalb weitgehend nutzlos und jeder meiner Karriereschritte war mit einem zusätzlichen Lernaufwand verbunden. Studieren bedeutete für mich auch einen sozialen Code zu entschlüsseln, der mir fremd war und in dem mich nie ganz heimisch fühlen werde. Deshalb hatte ich oft das Gefühl auf mich allein gestellt sein. Auch diese Erfahrung hatte eine ambivalente Wirkung. Zum einen gewann ich viel an Selbstsicherheit, weil ich akademische Erfolge komplett als die meinen begreifen konnte. Zum anderen fehlte mir aber oft die Gelassenheit, die auf der Gewissheit beruht, schon dazuzugehören. 

Mein sozialer Hintergrund beeinflusst meine philosophischen Interessen auf unterschiedliche Weise. Ich finde es wichtig, die Geschichte der Philosophie auch als eine Sozialgeschichte zu begreifen, um die soziale Position und das soziale Selbstverständnis von Philosoph:innen zu berücksichtigen. Das hat, glaube ich, auch damit zu tun, dass ich durch den radikalen Wechsel der sozialen Schicht erlebte, wie stark die Anerkennung von Wissensformen und die Beurteilung von Verhaltensweisen sozial geprägt sind. Beispielsweise belegen zahlreiche sozialpsychologische Studien, wie sehr moralischen Intuitionen von unserem sozialen Hintergrund bestimmt sind. Ich sehe keinen Grund, weshalb (akademische) Philosoph:innen, die auch eine bestimmte Position im Gesellschaftsgefüge inne haben und eben keine freischwebenden Intellektuellen sind, von dieser Prägung ausgenommen sein sollen. 

Zudem habe ich viel vom zweiten Bildungsweg meines Vaters gelernt, der ihm durch die Gewerkschaft ermöglicht wurde. Mir ist durch seine intellektuelle Entwicklung deutlich geworden, wie wichtig soziale Räume sind, in denen Selbstbildung durch Austausch auf Augenhöhe ermöglicht wird. Nicht zuletzt deshalb ist mir ein gewisser Widerstand gegen die hierarchischen Strukturen des Universitätsbetriebs erhalten geblieben, in dem die Lehre immer noch zu stark auf der Autorität der Professor:in beruht. Die sozialen Grundlagen dieser Autorität verweisen aber auch auf meine privilegierte Position als weißer Mann, die viel damit zu tun hat, dass ich meinen Weg erfolgreich gehen konnte.

Johannes Steizinger ist Associate Professor of Philosophy an der McMaster University (Hamilton, Kanada). 

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