Maren Behrensen

Familie

Mutter Katasterbeamtin, Vater Alkoholiker und Gelegenheitsarbeiter (verstarb kurz nach meiner Volljährigkeit). Multiple transgenerationale Traumata. Illustrierte und Volksmusik in Fernsehen und Radio statt Goethe und Klavierunterricht. Das familiäre Umfeld würde man heute wohl als „bildungsfern“ umschreiben, aber meine Eltern haben mich in meiner Neugier und in meinem Lernwillen immer unterstützt. Ich war unter den ersten Personen aus meinem erweiterten Familienkreis, die ein Universitätsstudium abgeschlossen haben und (soweit ich weiß) die erste, die einen Doktortitel erworben hat.

Bildungsweg und Beruf

Von Beginn an gute Noten in der Schule, ohne die ich kaum den direkten Weg zum Abitur und ins Studium genommen hätte. Interesse und Talent für Mathematik und Naturwissenschaften (wie meine Mutter, die ihre Schulbildung nach der 9. Klasse der Volksschule abbrechen musste). Mir wurde angeboten, die 11. Klasse zu überspringen (was ich ablehnte), und der Rektor meiner Schule meinte, ich solle Chemie oder eine andere Naturwissenschaft studieren.

Über den Unterricht im Fach „Werte und Normen“, das ich in Niedersachsen ab der 11. Klasse statt des evangelischen Religionsunterrichts wählen konnte, und das an meiner Gesamtschule behelfsweise von einem sehr klugen und freundlichen Geschichts- und Lateinlehrer unterrichtet wurde, verfestigte sich mein Interesse an Philosophie.

Erste Studienwahl Deutsche Sprache und Literatur, unter der völlig irregeleiteten Annahme, dass diese meinen schriftstellerischen Ambitionen dienlich wäre. Nach zwei Jahren (viel zu spät) abgebrochen, dann Magisterstudium der Philosophie. Meine Mutter hat mich während des Studiums in Deutschland finanziell unterstützt. Bafög und Jobs waren nie nötig (auch, weil ich keine Studiengebühren entrichten musste). Auf Stipendien habe ich mich in Deutschland nie beworben (und wurde dazu auch nie ermuntert). Im Rückblick bin ich der Meinung, dass eine Bewerbung mit meinem Hintergrund keine Chancen auf Erfolg gehabt hätte.

Einer meiner akademischen Lehrer im Magisterstudium, der vor meinem Abschluss nach Boston gewechselt war, empfahl mir, mich dort für ein Graduiertenstudium zu bewerben. Das war damals die einzige Bewerbung, die ich schrieb (ich hatte keine Vorstellung davon, was ich nach dem Studium mit meinem Leben anfangen wollte). Ich wurde angenommen, und ohne vorherige Auslandserfahrung zog ich in die Vereinigten Staaten. Im gesamten ersten Jahr des Graduiertenstudiums habe ich in Seminaren und Kolloquia überhaupt nicht gesprochen. Dissertation nach sechs statt der vorgesehenen fünf Jahre abgeschlossen. Danach zehn Jahre akademisches Prekariat (Lehraufträge, Post-doc, weitere Lehraufträge, WMA-Stelle, befristete Professur) in den Vereinigten Staaten, Schweden, Deutschland und den Niederlanden, erste unbefristete Stelle mit 41 Jahren.

Soweit ich das überblicke, bin ich der:die einzige deutsche trans und einzige nicht-binäre Philosoph:in mit einer unbefristeten Stelle in Europa (ich ganz allein bin die Lobby und die Cancel Culture).

Hindernisse und Unterstützung

Die guten Noten haben mit Sicherheit dazu beigetragen, dass mir nicht allein aufgrund meines familiären Hintergrundes der Bildungsweg an die Universität verschlossen blieb. Hinzu kommen die finanzielle Unterstützung meiner Mutter im Studium und die Förderung durch Lehrer:innen und Mentor:innen an Schule, Universitäten und im Arbeitsumfeld. Die Unterstützung durch erfahrene Kolleg:innen ist dabei bis heute wertvoll. Ich bin dankbar, dass ich mich aktuell in einem Arbeitsumfeld befinde, in dem unter Kolleg:innen gleichen Ranges mehr Solidarität als Konkurrenz gelebt wird, und in dem meine Forschungsinteressen als bereichernd wahrgenommen werden.

Mein familiärer Hintergrund hat für ein nachhaltiges impostor syndrome gesorgt. Das fehlende kulturelle Kapital und mein sozialer Habitus haben vor allem während meiner Zeit in den Vereinigten Staaten dazu geführt, dass ich meinen eigenen Fähigkeiten nicht mehr vertraute und es mir bis heute schwerfällt, selbstbewusst wissenschaftliche Interessen und Ambitionen zu formulieren. Hinzu kommen durch die schwierige Familiengeschichte bedingte psychische Verletzungen, die mich während des Studiums und während meiner Zeit im akademischen Prekariat teilweise stark behindert haben.

Trotzdem Philosophie?

Mein anfängliches Interesse an der Philosophie würde ich als ein historisches beschreiben: ich fand den Philosophieunterricht an der Schule und im Grundstudium spannend, weil sich mir erschloss, wie sich Theoriegebäude mit der Zeit entwickelt und aufeinander Bezug genommen haben. Dazu kam dann ein Interesse am „philosophischen Puzzle“: ein Argument nicht nur aufzudröseln, sondern auch eine eigene Position in Bezug auf ein solches Argument formulieren zu können.

Lange waren diese Interessen von meiner eigenen Geschichte und meinen Erfahrungen abgekoppelt: Philosophie war ein Weg, mich nicht mit mir und meinem Nahfeld auseinandersetzen zu müssen, sondern vermeintlich „objektiv“ auf die Welt zu blicken. Bei der Themenwahl meiner Magister- und meiner Doktorarbeit (Vergleich von Kants und Hobbes Staatstheorie, abstrakter Beitrag zur politischen Philosophie der Migration) fühlte ich mich verpflichtet, „echte“ philosophische Themen zu wählen anstelle der queeren und konkret-politischen Themen, die mich auch schon damals interessierten.

In den Jahren nach meiner Dissertation habe ich mir diese Themen erarbeitet, und dadurch zum ersten Mal das Gefühl gewonnen, mit einer eigenen philosophischen Stimme zu sprechen. Dennoch würde ich nicht von einem Bruch in meiner philosophischen Entwicklung sprechen; ich bin nicht von vermeintlich „sicheren“ und „objektiven“ philosophischen Themen in die Randbereiche der Disziplin gewandert, sondern befinde mich inmitten einer Disziplin, die (hoffentlich) diese „Randbereiche“ in ihr Zentrum holt, und so relevant bleibt. Die „klassischen“ historischen und analytischen Perspektiven, die mich für die Philosophie begeisterten, sind mir dabei weiterhin wichtig und bilden eine Grundlage (unter mehreren) meiner philosophischen Herangehensweise.

Maren Behrensen ist assistant professor an der Section of Philosophy der University of Twente, Enschede, Niederlande.

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