Markus Wild

Meine Grosseltern waren Kleinbauer, Schneiderin, Störmetzger und Frisöse. Alle aus der deutschen Schweiz. Die Eltern waren Gastwirte, ungelernter Arbeiter, ungelernte Arbeiterin, Unterhaltungsmusiker. Ihr Leben war autodidaktisch, improvisiert und aufreibend. Oft wechselten wir Wohnort und Gasthof. Der Lebensrhythmus von Kindern und Eltern lief auseinander. Die Grosseltern väterlicherseits wurden wichtig. Sie wohnten an einem Ort, arbeiteten nach der Pensionierung weiter, doch mit Musse. Grossmutter malte (Bauernmalerei), Grossvater schloss sich am Sonntagmorgen ein (Bibellektüre), sie nahm mich mit in die Stadt, um Heimarbeiten abzuliefern, er in seine Geschichte des 20. Jh. Offenbar war ein Berufsleben, in dem solche Dinge Platz haben, möglich. Meine erste Antwort auf die Frage, was ich einmal werden möchte, lautete deshalb «Pensioniert!», was in der Gaststube naturgemäss Gelächter erregte. Ich war cholerisch, langweilte mich oft in Gesellschaft und Schule und zog das Alleinsein vor: Waldgänge, Wildtiere, Bücher, Notizen, Zeichnungen, mein Hund. Ich sah schlecht, meine Aussprache war fehlerhaft, ich konnte vor Aufregung nicht vorlesen, ich bewegte Zunge und Mund beim Schreiben, war oft krank oder kränklich. Wildhüter, Pfarrer und Berufsberater sahen sich mein Geschriebenes und Gezeichnetes an und meinten: «Matura!». Ich wollte Koch werden; die Schnupperlehre versalzte mir das. Ich bestand die Prüfungen für die Kunstschule und das Lehrerseminar und wählte das Berufsorientierte. Irgendwann kaufte ich, denn Schopenhauer sah aus wie die grimmige Version des Grossvaters, «Die Welt als Wille und Vorstellung». Ich merkte, dass die Gesellschaft der Schule immer mehr Erziehungsaufgaben aufbürdete, das verengte und verunstaltete diese Aussicht zusehends. An den Kindern lag’s nicht. Stattdessen interessierte mich die Gesellschaft. Mit ihr (Kritische Theorie in der Tasche) machte ich als Altenpfleger, Buchhändler- und Spitalküchengehilfe sowie als Rekrut neue Erfahrungen. Ältere Freundinnen und Freunde, die sich im Toggenburg in Literatur, Musik, Philosophie versuchten, sowie Lehrer, die Freiräume fürs Selbststudium schufen, wirken rückblickend wie Wegweiser zum Studium von Philosophie und Literatur in Basel.

In der Schweiz hatten Akademikerkinder im Jahr 2018 eine 4,9 Mal bessere Chance, an der Universität zu studieren als Kinder von Nichtakademiker:innen. Das Entscheidende ist bei mir Anfang der 1980er geschehen mit der Aussicht auf Matura. Niemand in der weitläufigen Verwandtschaft hat diesen Weg genommen. Beim Verlassen des Lehrerseminars war ich 21 Jahre alt und weil ich meinen Lebensunterhalt bestreiten (und das Latinum nachholen) musste, verlor ich wieder Zeit. Der Staat gab 2500 Franken im Jahr, die Eltern übernahmen die Krankenkasse, Auslandsemester lagen nicht drin oder traute ich mir kaum zu. Eigennamen kannte ich – typisch für einen Autodidakten – nur vom Sehen und sprach sie falsch aus. (Der deutsche Dichter hiess «Stefan Schorsch» und der Schöpfer der «Illias» klang aus meinem Mund zunächst wie «Homer Simpson».) Meine Ausdrucksweise changierte zwischen unterschiedlichen Sprachregistern oder neigte zum Hyperbolischen. (Ich organisierte einen Protest gehen die Erhöhung von Studiengebühren mit, in der Zeitung fand ich nur meine Aussage: «Wir Studierenden fühlen uns verarscht.» Der besorgte Dekan zitierte mich, weil ich in der Studentenzeitung mit der Metapher des Blutkuchens, aus der man Blutwurst macht, um mich geworfen hatte.) Die Interessen zeigten in viele Richtungen, es war aufreibend mit meinen finanziellen, zeitlichen, emotionalen und sozialen Ressourcen hauszuhalten.

«Was soll ich lesen? Meinen Sie das wirklich? Warum soll das wichtig sein?» Ich sprach Professorinnen und Professoren direkt an und fand sie alle ausnahmslos unterstützend. Als ich eine Hausarbeit in wackliger Schreibmaschine abgab, lieh man mir einen ausrangierten Institutscomputer; als mich eine Veranstaltung inhaltlich interessierte, für die ich nicht weit genug fortgeschritten war, lud man mich trotzdem ein. Ich arbeitete in Gremien und Kommissionen mit. Nach und nach entstand die Idee zu promovieren. Aber worin und bei wem? Ein neuer Professor kam, brachte analytische Philosophie und Philosophie der Neuzeit mit, und in seinem Forschungsprojekt arbeitete ich zum ersten Mal in einem Team. Was in viele Richtungen gezeigt hatte, bekam Fokus und Form. Ich entdeckte eine alte Leidenschaft wieder (Tiere!) und bereitete emsig ein Seminar vor. Keiner kam und einer wäre fast gegangen. Mein Betreuer meinte: «Da wir schon so viel vorbereitet haben, könnten wir daraus einen Sammelband machen.» Daraus ist «Der Geist der Tiere» geworden. – Das klingt nun so, als wäre ich an der Universität in einer Welt von Wertschätzung und Gleichheit angekommen. Das trifft einen wichtigen Teil meiner Erfahrung. Aber ich meine, dass ich einfach Glück hatte. Solche Dinge sollten nicht vom Glück abhängen. Später merkte ich, das andere mit einem vergleichbaren Herkommen Pech oder Unglück hatten.

Es gibt Einsichten, die ich meinem Hintergrund oder vielmehr meinen ersten Erfahrungen an der Universität verdanke, und die für meine Tätigkeit nicht unwichtig sind. Da ist das Thema der Tiere, sie waren immer da (Hof, Wirtshaus, Wildhüter, Wald, Teller, Keller), jetzt als Gegenstand der Forschung. Da ist mein starkes Engagement für die Nachwuchsförderung an der Universität und beim Schweizer Nationalfonds. Da ist die Überzeugung, dass zur Philosophie ein öffentliches Engagement gehört, und zwar auf der Seite der Schwächeren (in meinem Fall: Tiere). Da ist (wieder) meine Ungeduld, wenn Dinge rhetorisch zu umständlich werden (vor allem in der Fakultät), ich neige dann zu Pragmatismus oder Ironie. Und da ist meine (erstaunlicherweise häufig Überraschung hervorrufende) Bereitschaft, Leuten mit Rat und Tat und Zeit beizustehen, sobald sie mich ansprechen.

Nur meine Grossmutter kam 2000 zu meiner Studienabschlussfeier nach Basel und veröffentlichte in der Appenzeller-Zeitung eine Anzeige. Sie wolle «ihnen zeigen, dass wir auch wer sind». Diese Worte habe ich erst später verstanden. Grossmutter war als lediges Kind am Ende des Ersten Weltkriegs ins katholische Land geboren worden und musste aus Not während des Zweiten Weltkriegs dort weg. Hatten wir es ihnen gezeigt? Irgendwie schon. 

Markus Wild ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Basel.

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