Deborah Mühlebach

In meiner Familie fand viel soziale Bewegung statt. Meine Mutter wuchs in einer Bauernfamilie in einer ländlichen Region auf, die für ihre Armut bekannt war und es in abgeschwächter Form noch heute ist. Obwohl sie gerne lernte, konnte sie das dritte, damals freiwillige Schuljahr der Oberstufe nicht besuchen. Meine Großeltern konnten und wollten den Betrag von 1,50€ für ihr tägliches Mittagessen auswärts nicht bezahlen. Als junge Frau absolvierte sie deshalb stattdessen ein Haushaltslehrjahr und finanzierte sich später selbst eine Ausbildung zur Sekretärin. Mein Vater wuchs weniger ländlich, aber ebenfalls in prekären Verhältnissen auf. Da gab es eine Mutter, die als Hausfrau die Kinder großzog. Und es gab einen Vater, der mit bescheidenen Mitteln für den Familienunterhalt aufkam, aber auch ein großes Alkoholproblem hatte und relativ früh an den Folgen dieser Suchterkrankung starb. Aus diesen ärmlichen Verhältnissen arbeiteten sich meine Eltern hoch und bauten sich mit einer traditionellen Rollenverteilung ein finanziell und anderweitig stabiles Leben auf.

In meiner Kindheit erfuhr ich viel Geborgenheit und Liebe und wenig Neugierde und Interesse an Unbekanntem. Ich wuchs mit dem Gefühl auf, alles machen zu können und dürfen, was mich zufrieden machte. Und mit der großen Unkenntnis darüber, was dies überhaupt sein könnte. Die Welt schien mir damals nicht allzu viele Optionen zu bieten und ich war oft gelangweilt.

Aufgrund guter Noten landete ich im Gymnasium und weil mich «Soziales» ganz allgemein interessierte, fing ich ein Soziologiestudium an. Im sozialtheoretischen Denken entdeckte ich eine Leidenschaft, die ich bis dahin in diesem Ausmaß nicht kannte. Auf der langen Suche nach einem geeigneten Nebenfach stieß ich in meinem ersten Philosophieseminar zu Kants «Kritik der reinen Vernunft» schließlich auf die philosophische Art des Denkens, in der ich mich zum ersten Mal intellektuell richtig zuhause fühlte. In langsamen Schritten bewegte ich mich danach hin zur Philosophie im Hauptfach. Später ließ ich mir von meiner Mutter erklären, dass Philosophie auf dem Gymnasium doch immer mein Lieblingsfach gewesen sei. Sie hatte recht, aber bis zu diesem Zeitpunkt war mir dies in keiner Weise bewusst. Philosophie war zu weit weg von allem, was bis dahin zu meinem Selbstverständnis gehörte.

Der Wechsel vom Gymnasium an die Uni ist die einschneidendste Erfahrung, die ich bisher in meinem Leben gemacht habe – ein Nachhausekommen, welches ein Abstoßen meines bisherigen Zuhauses zu erfordern schien. Ich hatte keine Meinung zum Weltgeschehen und wusste nicht, was eine sachliche Diskussion ist. Ich musste lernen, dass Widerspruch nicht persönliche Ablehnung bedeutet. Ich hatte Angst davor etwas Dummes zu sagen und meldete mich bis zum Ende meines Studiums kaum jemals in einem Seminar zu Wort – es sei denn, die Rolle der Tutorin verlange dies von mir, dann hatte ich keine Mühe zu reden. Ich kannte weder Theoretiker:innen noch andere Autor:innen, weil ich bis zum Studium kaum Bücher gelesen hatte. Ich fand mich in zahlreichen Situationen wieder, in denen meine Unifreund:innen in belanglosen Nebensätzen deutlich machten, welche Lebensstile akzeptabel waren und welche nicht. Was ich aus meinem Elternhaus kannte, gehörte immer zu Letzteren. Die Folge davon waren soziale Scham und das Nichtteilen von Erfahrungen. Ich wusste sehr bald sehr vieles aus der Vergangenheit und dem Umfeld meiner Unifreund:innen, sie wussten kaum etwas von mir.

Es erforderte viel Arbeit, um zu meinem neuen intellektuellen Zuhause, welches ich an der Uni gefunden hatte, eine gesunde kritische Distanz zu entwickeln. In diesem Prozess lernte ich, dass unterschiedliche soziale Milieus ihre eigenen sozialen Normen haben und dass es möglich ist, meine eigene Position in und zwischen mehreren Milieus zu behalten, ohne eines komplett annehmen oder ablehnen zu müssen. Die Abwertung, die mein Herkunftsmilieu durch mein akademisches Milieu erfährt, ist für mich inzwischen ein Zeugnis von Ignoranz und Unsicherheit des letzteren und ich versuche, meine Ressourcen dahingehend zu nutzen, dieser Abwertung entgegenzutreten. Um an diesen Punkt zu kommen, halfen mir ganz konkret die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Annie Ernaux und Didier Eribon. Auf eine andere Art und wohl noch wichtiger ermöglichten mir aber insbesondere meine Eltern diesen Prozess. Sie waren in der Lage zu formulieren, wie schmerzhaft es ist, dass sich ihre Tochter für sie zu schämen scheint, und sie waren und sind noch immer bereit, mit mir gemeinsam neue Wege zu finden, wie wir unsere Gemeinsamkeiten leben und unseren Differenzen wertfreier begegnen können.

Diese jahrelange Arbeit eines (mit der Zeit) bewussten Milieuwechsels, meine ausgeprägte Beobachtungsgabe, das im Soziologiestudium erlernte Denken in Strukturen und die Genauigkeit des philosophischen Denkens ließen mich über die Jahre hinweg eine Art des Denkens und Handelns entwickeln, die mein heutiges philosophisches Arbeiten ganz zentral ausmacht. Ich neige zum einen dazu, verschiedene Denktraditionen zusammenzubringen, die üblicherweise nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Zum anderen mache ich häufig auf problematische implizite Grundannahmen einer Debatte aufmerksam oder bringe grundsätzlich vernachlässigte neue Annahmen ins Spiel. Und schließlich besteht mein ganzes philosophisches Interesse darin Phänomene besser verstehen zu wollen, in denen Machtstrukturen das Denken, Wahrnehmen und Sprechen von uns Menschen maßgeblich mitformen. Dies scheint mir selbst eine interessante philosophische Arbeitsweise unter vielen möglichen zu sein – zudem eine, die (noch) nicht allzu oft praktiziert wird.

Deborah Mühlebach ist Postdoc an der FU Berlin.

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