Digital Governance in China – BCCN Lecture Series

You are warmly invited to this semester’s fascinating Berlin Contemporary China Network (BCCNOnline Lecture Series on Digital Governance in China starting on 2 November!

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Armutsbekämpfung in Xinjiang (von Johannes Nentwig)

Im Seminar „Kontinuität und Wandel in der chinesischen Armutsminderung“ im Sommersemester 2023 haben wir in mehreren Sitzungen einerseits über verschiedene Formen von Armut und andererseits über die großen regionalen Unterschiede bei der Verbreitung von Armut in China diskutiert. Insbesondere das erhebliche Ungleichgewicht in der Entwicklung zwischen Stadt und Land und zwischen der Küstenregion im Osten und dem westlich gelegenen „Hinterland“ war wiederholt Thema. Immer wieder musste ich dabei an das nordwestchinesische Gebiet Xinjiang denken, das auf der einen Seite innerhalb Chinas zu den ländlichen und ärmeren Regionen zählt, und auf der anderen Seite auch selbst als Region eine große Stadt-Land-Diskrepanz bei der Verteilung von zum Beispiel Einkommen oder Bildung aufweist. Dazu kommt in Xinjiang ein weiterer Faktor, der wiederum mit geografischen wie wirtschaftlichen Faktoren eng verknüpft ist: die Zugehörigkeit eines Großteils der Bevölkerung zu einer der turksprachigen ethnischen Minderheiten, in der Regel zur Ethnie der Uiguren.

Im ersten Teil dieses Beitrages wird Xinjiang etwas genauer vorgestellt und außerdem beschreibe ich einige Zusammenhänge zwischen ethnischer Zugehörigkeit und der wirtschaftlichen Situation. Im zweiten Teil gehe ich kurz auf staatliche Repressalien gegen die Minderheitsbevölkerung ein, bevor ich im dritten Teil den Ausbau des Tourismus als eine Stütze der Armutsbekämpfung etwas genauer beleuchte.

Ethnische Minderheiten und ökonomische Ungleichheit

Spätestens seit dem Jahr 2000 liegt in China mit der Strategie der „Großen Entwicklung des Westens“ (kurz GEW; chinesisch 西部大开发 Xībù dà kāifā) ein Fokus auf der wirtschaftlichen Entwicklung des westlichen Teils des Landes, der bis dahin noch nicht im großen Stil vom sprunghaften Wachstum der Wirtschaft erfasst worden war. Unter dieser Dachstrategie wurden Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte zusammengefasst, die diese Unterschiede überbrücken sollten und so „auch die Grenzregionen stärker an die Zentrale […] binden“ sollten ( Alpermann, 61). Zum „Entwicklungsgebiet“ gehört u. a. auch das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang (kurz Xinjiang, chinesisch 新 疆 Xīnjiāng). Dieses ist mit 1,66 Millionen km² Fläche die größte Verwaltungseinheit der Volksrepublik China, jedoch ist es mit 25,87 Millionen Einwohnern (2022) nur sehr dünn besiedelt, da es landschaftlich zu einem großen Teil von Wüsten und Hochgebirgen dominiert wird.

Der zunehmende Zuzug von Han-Chinesen in das Gebiet und deren häufige Vormachtstellung in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen führt zu fortwährenden interethnischen Spannungen (Alpermann, 62). So waren bei der ersten Volkszählung der Volksrepublik China 1953 von 4,78 Millionen Menschen in Xinjiang noch 93% Angehörige einer ethnischer Minderheiten; bereits deutlich vor der Kampagne zur wirtschaftlichen Entwicklung, im Jahr 1990, waren es nur noch 62,4% und auch seitdem ist der Wert weiter, auf 57,7% im Jahr 2020, zurückgegangen. Beim Zensus 2020 wurden 11,62 Millionen Uiguren gezählt, was einem Anteil von 45% der Gesamtbevölkerung bzw.von 77,8% der ethnischen Minderheiten entsprach. (Im verlinkten „Weißbuch“ zur Bevölkerung Xinjiangs wird in absoluten Zahlen ein Wachstum der Minderheitsbevölkerung ausgewiesen, bei Betrachtung der relativen Zahlen erkennt man aber einen Rückgang.)

Bei der geografischen Verteilung der Bevölkerung zeigen sich deutliche Ungleichheiten, nämlich z.B. dass die Verbreitung der Minderheiten, besonders der uigurischen Bevölkerung, im südlichen Xinjiang deutlich größer ist als im Norden und dass die ihr Angehörigen deutlich häufiger in ländlichen Gebieten als in den Städten leben. Entscheidend sind diese Faktoren, wenn man betrachtet, dass es beim Pro-Kopf-Einkommen ein erhebliches Nord-Süd-Gefälle sowie größere Stadt-Land-Unterschiede gibt und dass viele Investitionen vorrangig in den Norden geflossen sind (Alpermann, 75).

Armutsbekämpfung und staatliche Repressalien

Die GEW oder auch besonders auf Xinjiang ausgerichteten Teilbereiche der später folgenden „Belt and Road Initiative“(BRI) zielten beide nicht direkt auf Armutsminderung, sondern bündelten viele Projekte und waren auf allgemeine wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet. Daneben gab es auch gezielte Kampagnen zum Kampf gegen Armut. Mit großen finanziellen Investitionen und hohem personellen Aufwand wurden Gebiete mit unterdurchschnittlichem Haushaltseinkommen ausgemacht und bei der Eliminierung von absoluter Armut unterstützt, so dass diese schließlich, nach offiziellen Angaben, 2020 überwunden werden konnte. Auch längerfristig gesehen kann bestätigt werden, dass sich, zumindest aus wirtschaftlicher Perspektive, die Lebensbedingungen verbessert haben, sei es durch besser ausgebaute medizinische Versorgung oder gestiegene Löhne in landwirtschaftlichen Betrieben.

Obwohl Entwicklungsprojekte und Armutsbekämpfungskampagnen darauf ausgelegt sind, der lokalen Bevölkerung zugutezukommen, so erreichen sie ihr Ziel doch nicht immer oder verkehren es sogar ins Gegenteil. Beispielsweise können durch die besser ausgebaute Infrastruktur auch größere (vorwiegend Han-chinesische) Handels- und Transportunternehmen im Grenzverkehr operieren und verdrängen damit gewachsene lokale Netzwerke uigurischer Händler. Für die Entwicklung touristischer Attraktionen musste teilweise traditionelle Weidewirtschaft aufgegeben werden, damit Touristen „natürliche“ Landschaften genießen können (Alpermann, 78, 82). Außerdem ist davon auszugehen, dass eine weitere Intensivierung der Landwirtschaft, insbesondere des Baumwollanbaus, zu ökologischen Problemen führen wird, da bereits jetzt Wassermangel im Tarimbecken, d. h. im südlichen Xinjiang, herrscht.

Abgesehen von der „reinen“ Armutsminderung bzw. der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung müssen insbesondere in Xinjiang staatliche Maßnahmen auch im Hinblick auf die Angehörigen der ethnische Minderheiten betrachtet werden. (Gleiches gilt natürlich auch für die anderen autonomen Gebiete und weitere entsprechende Regionen.) Die viel beschworene Schaffung von Arbeitsplätzen z. B. in der Textilindustrie und die damit verbundene Eingliederung von uigurischen Menschen in ein staatlich gelenktes System wird z. B. von Adrian Zenz als Maßnahme zur Überwachung interpretiert. Noch dazu scheint es einen Zwang zur Arbeit in zugewiesenen Betrieben zu geben bzw. die Verpflichtung, dass mindestens ein Haushaltsmitglied einer Lohnarbeit in einem staatlich regulierten Betrieb nachgeht. Verbunden mit der „industriebasierten Armutsbeseitigung“ („industrial poverty alleviation“ in einigenenglischsprachigen Artikeln) gibt es ein umfassendes System von gefängnisartigen Umerziehungslagern. In diesen erhalten die Insassen zwar auch teils eine Art Berufsausbildung, aber vorrangig sind sie auf Indoktrination von Parteimaterial, sogenannte „De-Radikalisierung“ angeblicher religiöser Extremisten und erzwungenen Chinesisch-Unterricht ausgerichtet. Auch diese starke Fixierung auf die chinesische Sprache in o. g. Lagern, aber auch generell im Ausbau des Bildungsbereichs bis hin zu Kindergärten (Alpermann, 96), kann als ein Zeichen von Geringschätzung oder gar Unterdrückung des Uigurischen gelesen werden, mindestens kommt aber das Gefühlt auf, uigurischsprachigen Menschen würden Entwicklung und Fortschritt nicht zugetraut.

Neben den o. g. Kampagnen wird in Xinjiang außerdem seit geraumer Zeit eine Kampagne zur Bekämpfung der drei „Übel“, namentlich Terrorismus, Extremismus und Separatismus, gefahren, die nach gewaltsamen Unruhen in der Hauptstadt Ürümqi 2009 und nach größeren Anschlägen 2014 noch verschärft wurde (Alpermann, 63, 144). Die Kampagnen laufen teils Hand in Hand und sind im Ergebnis nicht klar voneinander zu trennen, da z. B. für einen großangelegten Ausbau der Polizei und anderer Sicherheitskräfte tausende Stellen geschaffen wurden (Alpermann, 169) oder Menschen in Lagern oder anderswo zu Arbeit gezwungen werden, um sie einerseits aus der Armut zu „heben“ und andererseits von ihren angeblichen extremistischen Gedanken zu befreien.

Für den Zeitraum von 1994 bis 2000 konnte eine Studie herausfinden, dass finanzielle Mittel der Zentralregierung, die eine Verringerung von Armut zum Ziel hatten, insgesamt eher genutzt wurden, um den Staats- und Sicherheitsapparat auszubauen und langfristig die staatliche Kontrolle zu stärken. Eine aktuelle Untersuchung gibt es dazu nicht direkt, jedoch lassen all die genannten Punkte für die heutige Zeit auf ein ähnliches Ergebnis schließen.

Entwicklung von Tourismus als wichtiger Beitrag zur Armutsbekämpfung

Wie in anderen Regionen mit größerer Minderheitenbevölkerung auch, wird in Xinjiang zur Armutsbekämpfung aufeinen deutlichen Ausbau des Tourismus gesetzt. Aufgrund der bisherigen„Rückständigkeit“ in der Entwicklung und der dezentralen Lage seien die natürlichen Landschaften und die lokalen Bräuche noch„relativ intakt“ und würden dazu einladen, den touristischen Markt zu entwickeln. Allerdings gehen auch mit der steigenden Zahl der Reisenden wiederum staatliche Maßnahmen einher, die für die Lokalbevölkerung nicht nur von Vorteil sein dürften: Durch viele Inlandstouristen lässt sich auch gut die Bevorzugung der chinesischen Sprache rechtfertigen; der Abriss und Neubau der Altstadt von Kashgar hübscht sie nicht nur für Besucherinnen und Besucher auf, sondern macht sie auchgleichzeitig besser überwachbar, weil Straßen und Wege verbreitert und begradigt wurden und Innenhöfe nicht mehr überdacht werden dürfen (Alpermann, 81).

Mit dem Ausbau des Tourismus wird aber neben der Schaffung von Jobs auch noch ein weiteres Ziel verfolgt, nämlich in Xinjiang die Kultur „anzureichern“ mit Elementen aus der Han- chinesischen Kultur. Dazu wurden beispielsweise Ausstellungen über traditionelle Scherenschnitte nach Xinjiang gebracht oder ein ganzes Museum über den Konfuzianismus errichtet. Gleichzeitig werden religiöse Elemente der uigurischen Kultur negiert und ausgeblendet, Moscheen wurden abgerissen und sogar Friedhöfe wurden zerstört und beräumt. Und auch dass ausgewählte Elemente (quasi „wünschenswerte“) uigurischer Kultur gefördert und zu einer Touristenattraktion gemacht wird, seien es Tanzshows, Musikdarbietungen oder traditionelle Kleidung als Souvenir, ist insofern problematisch, dass dahinter eine gewisse staatliche Lenkung steht, die den Betroffenen wenig bis keinen Spielraum bietet, wie und ob sie selbst ihre Kultur und ihre Traditionen präsentieren und entwickeln wollen. Vereinheitlichte Tänze und dem chinesischen Geschmack angepasste Musik haben zudem nicht mehr viel mit traditionellen Praktiken zu tun, wenn sie noch dazu nicht mehr zu ihren ursprünglichen Anlässen aufgeführt bzw. zelebriert werden können, sondern nur noch zur Schau gestellt werden.

Trotz der Einkommenssteigerung und objektiv gesehen verbesserten Lebensumständen, die u. a. mit dem Ausbau des Tourismus einhergingen, bleiben Menschen in Xinjiang so weiter in niedriger bezahlten Service-Jobs und die ethnischen Minderheiten werden einerseits assimiliert, aber gleichzeitig weiterhin exotisiert und als rückständig und „noch zu entwickeln“ marginalisiert.

Erfolg? Eine Frage der Perspektive.

Es ist schwierig, die Lage in Xinjiang einheitlich zu beurteilen. Einerseits gesehen ist die Armutsbekämpfung ein nomineller Erfolg und durch einen „Krieg des Volkes“ konnte die absolute Armut – natürlich „plansollerfüllend“ Ende des Jahres 2020 – in ganz China eliminiert werden. Trotzdem bleiben erhebliche regionale Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb Chinas bestehen und so bleibt die relative Armut weiter ein Thema. Die vielfache Beschäftigung von Uigurinnen und Uiguren in Hilfsberufen in der Industrie, Landwirtschaft und im Tourismus wird auch weiterhin für ein gewisses Ungleichgewicht und eine Marginalisierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit und Sprache sorgen.

Abgesehen von der materiellen Armut kann man auch von anderen Formen der Armut sprechen. Statt einer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und auch Autonomie, wie man sie in einem sogenannten Autonomen Gebiet erwarten könnte, scheint sich eher eine kulturelle und sprachliche Armut auszubreiten, die von politischen und wirtschaftlichen Interessen des chinesischen Staats gesteuert wird.