Gen Eickers

Mein Dasein als Philosoph*in der ersten Generation nehme ich nicht per se als etwas Schlechtes wahr; ich bin sogar froh. Vor allem um das Aufwachsen auf dem Land, das sehr verkörperte Verständnis von Leben und Arbeit, und das mir vermittelte Verständnis dessen, was lebensnotwendig ist. Jedoch sind natürlich strukturelle Probleme damit verbunden. Diese würde ich als Zugangs-Probleme zu spezifischem Wissen und habituellen Zugehörigkeitsproblemen spezifizieren. Die Probleme können sich dann wiederum materiell auswirken: in der Schule z.B. als Noten, später in den Finanzen, und durchgängig auch psychisch. Mein familiärer Hintergrund ist einerseits landwirtschaftlich und andererseits handwerklich geprägt. Meine Kindheit habe ich oft damit verbracht, mit meinem Großvater auf dem Traktor in den Wald zu fahren um dort Waldarbeiten zu erledigen. Der landwirtschaftliche Betrieb war jedoch bereits größtenteils eingestellt als ich Kind war; das hatte sicherlich die Auswirkung, dass von mir z.B. nicht erwartet wurde, den Betrieb weiterzuführen. Im Gegenteil: Bildung war sehr wichtig, und vor allem auch dadurch motiviert, dass einigen Familienmitgliedern Bildung versagt wurde – z.T. als Folge von Vertreibung, und z.T. aufgrund Erwartungen an bestimmte Geschlechter-Rollen.

Mein sozialer Hintergrund hat eine Rolle gespielt bei verschiedenen Entscheidungen und Schwierigkeiten auf meinem Bildungsweg: mir wurde zum Beispiel empfohlen, das 12jährige Gymnasium zu machen – zu der Zeit ein Modellversuch in Baden-Württemberg; das Gymnasium wäre allerdings ein anderes gewesen als das, auf das alle anderen „vom Dorf“ gingen und kam entsprechend für mich und meine Familie nicht in Frage. Im Nachhinein denke ich, vielleicht hätte das 12jährige Gymnasium die Langeweile, die ich oft in der Schule hatte und die beizeiten auch zu starkem Leistungsabfall beigetragen hat, etwas abfedern können. Gleichzeitig bin ich mir bewusst darüber, dass Gymnasien ohnehin nicht unbedingt ‚lower class friendly‘ sind. Meine Noten haben sicherlich nicht nur durch die Langeweile gelitten, sondern auch durch eine mit Leistungserwartungen und Anforderungen durchtränkte Lernumwelt, die auf Kosten der mentalen Gesundheit geht.

Nach dem Abitur entschied ich mich zunächst für ein Staatsexamensstudium – dies vermittelte mir eine Art Sicherheit, die ich benötigte, um mir selbst ein Studium zu erlauben: die Bezahlung des Lehrer*innen-Berufs lag über dem für mich Gewohnten, und es bestanden Aussichten auf dauerhafte Stellen. Wobei auch hier Listen nach Abschlussnoten erstellt wurden, die eine Aussagekraft über die Kompetenz und Motivation der angehenden Lehrer*innen vortäuschten. An der Universität, an der ich studiert habe, pendelten sehr viele der Studierenden täglich bis zu zwei Stunden vom Land; ich auch, bis ich mir durch Bafög, Halbwaisenrente, und Minijob ein Zimmer finanzieren konnte. Ein Stipendium war nicht auf meinem Radar: als studierende Person dachte ich, Stipendien wären nur für Menschen aus Familien mit hohen und sehr guten Bildungsabschlüssen oder Menschen, die schon jahrelang in einer politischen Partei aktiv sind (und dieses Bild wird eben auch ein Stück weit durch die Stipendienlandschaft vermittelt). Außerdem war ich neben dem Studium damit beschäftigt, zu lernen dialekt-frei zu sprechen; Dialekt war an der Uni in Baden-Württemberg ein eindeutiger Marker für eine andere Klassen- oder Bildungszugehörigkeit.

Mein Interesse an philosophischen Fragen war lange schon groß; mich trieben insbesondere auch Fragen um soziale Gerechtigkeit im alltäglichen Denken und Handeln um. Zur Promotion kam ich allerdings vor allem dadurch dass ich von Mentor*innen dazu angehalten und ermutigt wurde – ich wäre nicht selbst auf die Idee gekommen, mich bei einer Graduiertenschule zu bewerben; meine Zeugnisse erschienen mir etwas zu punk, die Hürden erschienen mir viel zu groß und ich erschien mir nicht zugehörig (trotz mittlerweile größtenteils dialekt-freien Sprechens).

Während meiner Promotion erschienen mir viele der ungeschriebenen sozialen und akademischen Regeln fremd und unzugänglich: Wie verhält man sich bspw. bei einer Konferenz? Wieviel Geld kann man beantragen? Wieso besitzen viele andere Promovierende so viele Bücher? Zudem hat das Nicht-Vorhandensein einer finanziellen Absicherung dazu geführt, dass ich meine Promotion innerhalb von 3 Jahren abgeschlossen habe – also genau in der Zeit meines Stipendiums. Das hatte keine negativen Auswirkungen auf die Dissertation, jedoch hat es natürlich zu erhöhtem Druck und Stress geführt, und die Explorationsphase fiel entsprechend kurz aus.

Die strukturellen Probleme, mit denen ich während meiner Bildung und Promotion konfrontiert war, haben mit Eintreten in die Postdoc-Phase nicht schlagartig aufgehört. Einiges zieht langfristige „Begleiter*innen“ nach sich: das Gefühl, nicht genug zu tun; das Gefühl, eigentlich keinen richtigen Job zu haben; das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Insbesondere in Deutschland kommen natürlich die strikten Regeln zu akademischen Karrieren erschwerend hinzu und befördern Prekarisierung und finanzielle Unsicherheit. Sicherlich spielt bei mir – wie bei einigen anderen – nicht ausschließlich der soziale Hintergrund eine Rolle diesbezüglich, sondern auch andere Aspekte meiner Identität wie z.B. offen gelebte Queerness. Der soziale Hintergrund bzw. das Dasein als Philosoph*in erster Generation ist bei einigen Philosoph*innen nur einer von mehreren Marginalisierungsaspekten. Siehe z.B. Maren Behrensen’s Beitrag: während Maren Behrensen der*die einzige deutsche trans und einzige nicht-binäre Philosoph*in mit einer unbefristeten Stelle in Europa ist, bin ich – soweit ich das überblicken kann – die einzige trans und nicht-binäre Person in der Philosophie mit einer (Postdoc-)Stelle in Deutschland. Schaut man sich Statistiken zu bspw. Erwerbslosigkeit von trans und nicht-binären Personen in Deutschland an, ist das leider nicht verwunderlich. Die akademische Philosophie in Deutschland (wie vermutlich einige andere Disziplinen auch) hat einen langen Weg vor sich, um gerechtere Verhältnisse herzustellen, die nicht nur Philosoph*innen der ersten Generation zu Gute kämen, sondern auch anderen unterrepräsentierten Personengruppen in der Philosophie und insbesondere mehrfach marginalisierten Personen. In manchen anderen Disziplinen bzw. in anderen Ländern werden marginalisierte Personen gezielt zur Bewerbung aufgerufen, und Marginalisierungsthemen (in der Philosophie) werden gezielt gefördert und berücksichtigt. Hier geht es nicht um eine zwanghafte Diversifizierung der Stellen sondern auch um ein Umdenken hinlänglich der Fragen, die wir in der Philosophie stellen und unserer Definition dessen, was Philosophie ist und was sie sein könnte.

Gen Eickers ist Postdoc an der University of Education Ludwigsburg.

Markus Schrenk 

(1) Wie rdest Du Deinen sozialen Hintergrund beschreiben?

Meine Eltern waren sehr jung, 17 und 19 Jahre alt, und selbst noch in Ausbildung, als ich zur Welt kam. Meine Mutter war Erzieherin, mein Vater Finanzbeamter. Wir lebten in einem Dorf in Rheinland-Pfalz, kulturelle Angebote waren eher rar und mein Gymnasium mehr oder weniger der einzige Ort, der Zugang zu Bildung, zu Kultur und Wissenschaft ermöglichte. Glücklicherweise hatte ich einige gleichgesinnte Schulfreunde, die auch an Philosophie interessiert waren, und Lehrer, die mein Interesse förderten. Meine Eltern haben mir auch nie Steine in den und, wo sie es konnten, einige aus dem Weg gelegt.

(2) Was waren für Dich besondere Schwierigkeiten, die mit Deinem Hintergrund zu tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?

Dass viele meiner Kommiliton:innen unter Professor:innen, Lehrer:innen, Ärzt:innen, etc. aufgewachsen waren, habe ich besonders in Oxford, wo ich promovierte, oder auf Sommerakademien der Studienstiftung erfahren/ erspürt. Deutlich wurden diese Differenzen jedoch nicht in Uniseminaren, denn da ist die analytische Philosophie ja begrüßenswert egalitär, sondern besonders im außerakademischen Kontext: In vielen akademischen Elternhäusern geht man ja selbstverständlicher mit kulturellen Referenzen um, ist weiter gereist, geht häufiger aus, spricht ggf. mehrere Sprachen, etc. Das schüchterte schon ein. Auf einer Sommerakademie beeindruckte mich dann besonders, dass unser Prof nach der Wanderung erst einmal eine Runde Bier für alle bestellte: Was? Auch Professor:innen trinken Bier, nicht Wein?

(3) Was hat Dir dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?

Naivität! Es hat nämlich etwas gedauert, bis mir der Grund der Differenz explizit klar wurde. Glücklicherweise durfte ich mich zu diesem Zeitpunkt schon über akademische Erfolge freuen, so dass ich meistens damit umgehen konnte. Aber es gab durchaus Momente, in denen mir das nicht möglich war. Und dann fluktuierten die Emotionen zwischen dem Gefühl, inadäquat zu sein, und dem Selbstbewusstsein, es ja trotzdem „geschafft“ zu haben.

(4) Gibt es besondere Einsichten oder Perspektiven, die Du Deinem Hintergrund verdankst und die für Deine philosophische Forschung oder Lehre von besonderem Wert sind?

Zusammen mit dem Team von denXte, einer philosophischen Vortragsreihe für Bürger:innen in Düsseldorf, habe ich 2022 den Communicator-Preis der DFG und des Stifterverbands für Wissenschaftskommunikation verliehen bekommen. Das hat mich enorm gefreut und ich vermute, dass mir meine nicht-universitäre Vergangenheit hilft, wirklich auf Augenhöhe mit den Bürger:innen zu kommunizieren und die Brücke zwischen akademischer Wissenschaft und Menschen ohne philosophische Vorkenntnisse zu schlagen.

Markus Schrenk ist Professor für Metaphysik und Sprachphilosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Deborah Mühlebach

In meiner Familie fand viel soziale Bewegung statt. Meine Mutter wuchs in einer Bauernfamilie in einer ländlichen Region auf, die für ihre Armut bekannt war und es in abgeschwächter Form noch heute ist. Obwohl sie gerne lernte, konnte sie das dritte, damals freiwillige Schuljahr der Oberstufe nicht besuchen. Meine Großeltern konnten und wollten den Betrag von 1,50€ für ihr tägliches Mittagessen auswärts nicht bezahlen. Als junge Frau absolvierte sie deshalb stattdessen ein Haushaltslehrjahr und finanzierte sich später selbst eine Ausbildung zur Sekretärin. Mein Vater wuchs weniger ländlich, aber ebenfalls in prekären Verhältnissen auf. Da gab es eine Mutter, die als Hausfrau die Kinder großzog. Und es gab einen Vater, der mit bescheidenen Mitteln für den Familienunterhalt aufkam, aber auch ein großes Alkoholproblem hatte und relativ früh an den Folgen dieser Suchterkrankung starb. Aus diesen ärmlichen Verhältnissen arbeiteten sich meine Eltern hoch und bauten sich mit einer traditionellen Rollenverteilung ein finanziell und anderweitig stabiles Leben auf.

In meiner Kindheit erfuhr ich viel Geborgenheit und Liebe und wenig Neugierde und Interesse an Unbekanntem. Ich wuchs mit dem Gefühl auf, alles machen zu können und dürfen, was mich zufrieden machte. Und mit der großen Unkenntnis darüber, was dies überhaupt sein könnte. Die Welt schien mir damals nicht allzu viele Optionen zu bieten und ich war oft gelangweilt.

Aufgrund guter Noten landete ich im Gymnasium und weil mich «Soziales» ganz allgemein interessierte, fing ich ein Soziologiestudium an. Im sozialtheoretischen Denken entdeckte ich eine Leidenschaft, die ich bis dahin in diesem Ausmaß nicht kannte. Auf der langen Suche nach einem geeigneten Nebenfach stieß ich in meinem ersten Philosophieseminar zu Kants «Kritik der reinen Vernunft» schließlich auf die philosophische Art des Denkens, in der ich mich zum ersten Mal intellektuell richtig zuhause fühlte. In langsamen Schritten bewegte ich mich danach hin zur Philosophie im Hauptfach. Später ließ ich mir von meiner Mutter erklären, dass Philosophie auf dem Gymnasium doch immer mein Lieblingsfach gewesen sei. Sie hatte recht, aber bis zu diesem Zeitpunkt war mir dies in keiner Weise bewusst. Philosophie war zu weit weg von allem, was bis dahin zu meinem Selbstverständnis gehörte.

Der Wechsel vom Gymnasium an die Uni ist die einschneidendste Erfahrung, die ich bisher in meinem Leben gemacht habe – ein Nachhausekommen, welches ein Abstoßen meines bisherigen Zuhauses zu erfordern schien. Ich hatte keine Meinung zum Weltgeschehen und wusste nicht, was eine sachliche Diskussion ist. Ich musste lernen, dass Widerspruch nicht persönliche Ablehnung bedeutet. Ich hatte Angst davor etwas Dummes zu sagen und meldete mich bis zum Ende meines Studiums kaum jemals in einem Seminar zu Wort – es sei denn, die Rolle der Tutorin verlange dies von mir, dann hatte ich keine Mühe zu reden. Ich kannte weder Theoretiker:innen noch andere Autor:innen, weil ich bis zum Studium kaum Bücher gelesen hatte. Ich fand mich in zahlreichen Situationen wieder, in denen meine Unifreund:innen in belanglosen Nebensätzen deutlich machten, welche Lebensstile akzeptabel waren und welche nicht. Was ich aus meinem Elternhaus kannte, gehörte immer zu Letzteren. Die Folge davon waren soziale Scham und das Nichtteilen von Erfahrungen. Ich wusste sehr bald sehr vieles aus der Vergangenheit und dem Umfeld meiner Unifreund:innen, sie wussten kaum etwas von mir.

Es erforderte viel Arbeit, um zu meinem neuen intellektuellen Zuhause, welches ich an der Uni gefunden hatte, eine gesunde kritische Distanz zu entwickeln. In diesem Prozess lernte ich, dass unterschiedliche soziale Milieus ihre eigenen sozialen Normen haben und dass es möglich ist, meine eigene Position in und zwischen mehreren Milieus zu behalten, ohne eines komplett annehmen oder ablehnen zu müssen. Die Abwertung, die mein Herkunftsmilieu durch mein akademisches Milieu erfährt, ist für mich inzwischen ein Zeugnis von Ignoranz und Unsicherheit des letzteren und ich versuche, meine Ressourcen dahingehend zu nutzen, dieser Abwertung entgegenzutreten. Um an diesen Punkt zu kommen, halfen mir ganz konkret die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Annie Ernaux und Didier Eribon. Auf eine andere Art und wohl noch wichtiger ermöglichten mir aber insbesondere meine Eltern diesen Prozess. Sie waren in der Lage zu formulieren, wie schmerzhaft es ist, dass sich ihre Tochter für sie zu schämen scheint, und sie waren und sind noch immer bereit, mit mir gemeinsam neue Wege zu finden, wie wir unsere Gemeinsamkeiten leben und unseren Differenzen wertfreier begegnen können.

Diese jahrelange Arbeit eines (mit der Zeit) bewussten Milieuwechsels, meine ausgeprägte Beobachtungsgabe, das im Soziologiestudium erlernte Denken in Strukturen und die Genauigkeit des philosophischen Denkens ließen mich über die Jahre hinweg eine Art des Denkens und Handelns entwickeln, die mein heutiges philosophisches Arbeiten ganz zentral ausmacht. Ich neige zum einen dazu, verschiedene Denktraditionen zusammenzubringen, die üblicherweise nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Zum anderen mache ich häufig auf problematische implizite Grundannahmen einer Debatte aufmerksam oder bringe grundsätzlich vernachlässigte neue Annahmen ins Spiel. Und schließlich besteht mein ganzes philosophisches Interesse darin Phänomene besser verstehen zu wollen, in denen Machtstrukturen das Denken, Wahrnehmen und Sprechen von uns Menschen maßgeblich mitformen. Dies scheint mir selbst eine interessante philosophische Arbeitsweise unter vielen möglichen zu sein – zudem eine, die (noch) nicht allzu oft praktiziert wird.

Deborah Mühlebach ist Postdoc an der FU Berlin.

Aus dem akademischen Mittelbau

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Es mangelte nicht an Zuneigung, aber an Büchern, Museen- oder gar Theaterbesuchen. Meine Eltern haben wenig gelesen und kein echtes Interesse an Kultur. Als Kind habe ich ebenfalls wenig gelesen und hatte im Vergleich zu meinen Mitschülerinnen eine Lese- und Schreibschwäche. Zu allem Überfluss war ich auch sehr unruhig. Lehrer legten meinen Eltern nahe, dass ich die Hauptschule besuchen sollte. Es versteht sich von selbst, dass dieser Bildungsweg prägend ist. Für mich war nichts ferner als die Vorstellung, an einer Hochschule zu studieren. Ich hatte nicht die leiste Ahnung, was man unter Philosophie versteht. Mit Philosophie kam ich durch Zufall in Kontakt. Ein Freund vom Gymnasium – heute haben wir beide einen Doktortitel – erzählte mir von der Philosophie Kants.

Es ist wichtig, seine Defizite zu erkennen, um sie zu beseitigen. Letzteres kostet zusätzlichen Aufwand und Zeit. Zu meinem Glück bieten deutsche Hochschulen Aufbaukurse für diverse Sprachen an. Unter anderem waren es Angebote dieser Art, mit denen ich manche Schwierigkeiten überwinden konnte. Allerdings halte ich es für illusorisch, alle Unterschiede durch nachträgliche Mühen auflösen zu können. Beispielsweise habe ich als Student Stipendiaten namhafter Stiftungen kennen gelernt, die allesamt aus Akademiker-Elternhäusern kamen. Das ist kein Zufall und auf dieser Grundlage ist häufig auch die Folgefinanzierung für die Promotion gesichert. Ein solcher Lebenslauf sieht natürlich auch besser aus. Die Soziologin Christina Möller zeigte in einer Studie, dass zwischen 2001 und 2010 nur zehn Prozent aller berufenen Hochschullehrer aus der Arbeiterschicht stammten.

Von der Hauptschule aus ist es zunächst schwierig, die Berührungsangst mit dem Thema Studieren zu verlieren. Wer aus einer Arbeiterfamilie kommt, hat typischerweise keinen geradlinigen Lebenslauf und ein höheres Alter ist eine formale Hürde für manche Förderungen. Davon abgesehen ist es nicht unproblematisch, Schwierigkeiten im akademischen Bereich auf seinen speziellen Bildungshintergrund zurückzuführen. Ich glaube allerdings, dass ich noch immer bestimmte Defizite habe, die mit meinem Bildungshintergrund zusammenhängen. Ich habe mich beispielsweise immer schwer damit getan, Sprachen zu lernen und habe auch lange mit dem Englischen gekämpft.

Dass ich letztendlich in der Philosophie gelandet bin, hat auch mit zufälligen Begegnungen zu tun. Die Bekanntschaft mit der Philosophie muss aber nicht dem Zufall überlassen sein. Das Projekt Corrupt the Youth aus den USA könnte hier Vorbild sein. Hier wird auch Jugendlichen aus der Arbeiterschicht die Möglichkeit geboten, sich mit Philosophie vertraut zu machen. Davon abgesehen, habe ich aufgrund meiner Biographie Zweifel am deutschen Schulsystem. Ich halte viel vom Konzept der Gesamtschule, das verschiedene Bildungsgänge in einer Schule vereint und eine höhere Durchlässigkeit verspricht.

Der Verfasser dieses Beitrags ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer deutschen Universität.

Markus Wild

Meine Grosseltern waren Kleinbauer, Schneiderin, Störmetzger und Frisöse. Alle aus der deutschen Schweiz. Die Eltern waren Gastwirte, ungelernter Arbeiter, ungelernte Arbeiterin, Unterhaltungsmusiker. Ihr Leben war autodidaktisch, improvisiert und aufreibend. Oft wechselten wir Wohnort und Gasthof. Der Lebensrhythmus von Kindern und Eltern lief auseinander. Die Grosseltern väterlicherseits wurden wichtig. Sie wohnten an einem Ort, arbeiteten nach der Pensionierung weiter, doch mit Musse. Grossmutter malte (Bauernmalerei), Grossvater schloss sich am Sonntagmorgen ein (Bibellektüre), sie nahm mich mit in die Stadt, um Heimarbeiten abzuliefern, er in seine Geschichte des 20. Jh. Offenbar war ein Berufsleben, in dem solche Dinge Platz haben, möglich. Meine erste Antwort auf die Frage, was ich einmal werden möchte, lautete deshalb «Pensioniert!», was in der Gaststube naturgemäss Gelächter erregte. Ich war cholerisch, langweilte mich oft in Gesellschaft und Schule und zog das Alleinsein vor: Waldgänge, Wildtiere, Bücher, Notizen, Zeichnungen, mein Hund. Ich sah schlecht, meine Aussprache war fehlerhaft, ich konnte vor Aufregung nicht vorlesen, ich bewegte Zunge und Mund beim Schreiben, war oft krank oder kränklich. Wildhüter, Pfarrer und Berufsberater sahen sich mein Geschriebenes und Gezeichnetes an und meinten: «Matura!». Ich wollte Koch werden; die Schnupperlehre versalzte mir das. Ich bestand die Prüfungen für die Kunstschule und das Lehrerseminar und wählte das Berufsorientierte. Irgendwann kaufte ich, denn Schopenhauer sah aus wie die grimmige Version des Grossvaters, «Die Welt als Wille und Vorstellung». Ich merkte, dass die Gesellschaft der Schule immer mehr Erziehungsaufgaben aufbürdete, das verengte und verunstaltete diese Aussicht zusehends. An den Kindern lag’s nicht. Stattdessen interessierte mich die Gesellschaft. Mit ihr (Kritische Theorie in der Tasche) machte ich als Altenpfleger, Buchhändler- und Spitalküchengehilfe sowie als Rekrut neue Erfahrungen. Ältere Freundinnen und Freunde, die sich im Toggenburg in Literatur, Musik, Philosophie versuchten, sowie Lehrer, die Freiräume fürs Selbststudium schufen, wirken rückblickend wie Wegweiser zum Studium von Philosophie und Literatur in Basel.

In der Schweiz hatten Akademikerkinder im Jahr 2018 eine 4,9 Mal bessere Chance, an der Universität zu studieren als Kinder von Nichtakademiker:innen. Das Entscheidende ist bei mir Anfang der 1980er geschehen mit der Aussicht auf Matura. Niemand in der weitläufigen Verwandtschaft hat diesen Weg genommen. Beim Verlassen des Lehrerseminars war ich 21 Jahre alt und weil ich meinen Lebensunterhalt bestreiten (und das Latinum nachholen) musste, verlor ich wieder Zeit. Der Staat gab 2500 Franken im Jahr, die Eltern übernahmen die Krankenkasse, Auslandsemester lagen nicht drin oder traute ich mir kaum zu. Eigennamen kannte ich – typisch für einen Autodidakten – nur vom Sehen und sprach sie falsch aus. (Der deutsche Dichter hiess «Stefan Schorsch» und der Schöpfer der «Illias» klang aus meinem Mund zunächst wie «Homer Simpson».) Meine Ausdrucksweise changierte zwischen unterschiedlichen Sprachregistern oder neigte zum Hyperbolischen. (Ich organisierte einen Protest gehen die Erhöhung von Studiengebühren mit, in der Zeitung fand ich nur meine Aussage: «Wir Studierenden fühlen uns verarscht.» Der besorgte Dekan zitierte mich, weil ich in der Studentenzeitung mit der Metapher des Blutkuchens, aus der man Blutwurst macht, um mich geworfen hatte.) Die Interessen zeigten in viele Richtungen, es war aufreibend mit meinen finanziellen, zeitlichen, emotionalen und sozialen Ressourcen hauszuhalten.

«Was soll ich lesen? Meinen Sie das wirklich? Warum soll das wichtig sein?» Ich sprach Professorinnen und Professoren direkt an und fand sie alle ausnahmslos unterstützend. Als ich eine Hausarbeit in wackliger Schreibmaschine abgab, lieh man mir einen ausrangierten Institutscomputer; als mich eine Veranstaltung inhaltlich interessierte, für die ich nicht weit genug fortgeschritten war, lud man mich trotzdem ein. Ich arbeitete in Gremien und Kommissionen mit. Nach und nach entstand die Idee zu promovieren. Aber worin und bei wem? Ein neuer Professor kam, brachte analytische Philosophie und Philosophie der Neuzeit mit, und in seinem Forschungsprojekt arbeitete ich zum ersten Mal in einem Team. Was in viele Richtungen gezeigt hatte, bekam Fokus und Form. Ich entdeckte eine alte Leidenschaft wieder (Tiere!) und bereitete emsig ein Seminar vor. Keiner kam und einer wäre fast gegangen. Mein Betreuer meinte: «Da wir schon so viel vorbereitet haben, könnten wir daraus einen Sammelband machen.» Daraus ist «Der Geist der Tiere» geworden. – Das klingt nun so, als wäre ich an der Universität in einer Welt von Wertschätzung und Gleichheit angekommen. Das trifft einen wichtigen Teil meiner Erfahrung. Aber ich meine, dass ich einfach Glück hatte. Solche Dinge sollten nicht vom Glück abhängen. Später merkte ich, das andere mit einem vergleichbaren Herkommen Pech oder Unglück hatten.

Es gibt Einsichten, die ich meinem Hintergrund oder vielmehr meinen ersten Erfahrungen an der Universität verdanke, und die für meine Tätigkeit nicht unwichtig sind. Da ist das Thema der Tiere, sie waren immer da (Hof, Wirtshaus, Wildhüter, Wald, Teller, Keller), jetzt als Gegenstand der Forschung. Da ist mein starkes Engagement für die Nachwuchsförderung an der Universität und beim Schweizer Nationalfonds. Da ist die Überzeugung, dass zur Philosophie ein öffentliches Engagement gehört, und zwar auf der Seite der Schwächeren (in meinem Fall: Tiere). Da ist (wieder) meine Ungeduld, wenn Dinge rhetorisch zu umständlich werden (vor allem in der Fakultät), ich neige dann zu Pragmatismus oder Ironie. Und da ist meine (erstaunlicherweise häufig Überraschung hervorrufende) Bereitschaft, Leuten mit Rat und Tat und Zeit beizustehen, sobald sie mich ansprechen.

Nur meine Grossmutter kam 2000 zu meiner Studienabschlussfeier nach Basel und veröffentlichte in der Appenzeller-Zeitung eine Anzeige. Sie wolle «ihnen zeigen, dass wir auch wer sind». Diese Worte habe ich erst später verstanden. Grossmutter war als lediges Kind am Ende des Ersten Weltkriegs ins katholische Land geboren worden und musste aus Not während des Zweiten Weltkriegs dort weg. Hatten wir es ihnen gezeigt? Irgendwie schon. 

Markus Wild ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Basel.

Maren Behrensen

Familie

Mutter Katasterbeamtin, Vater Alkoholiker und Gelegenheitsarbeiter (verstarb kurz nach meiner Volljährigkeit). Multiple transgenerationale Traumata. Illustrierte und Volksmusik in Fernsehen und Radio statt Goethe und Klavierunterricht. Das familiäre Umfeld würde man heute wohl als „bildungsfern“ umschreiben, aber meine Eltern haben mich in meiner Neugier und in meinem Lernwillen immer unterstützt. Ich war unter den ersten Personen aus meinem erweiterten Familienkreis, die ein Universitätsstudium abgeschlossen haben und (soweit ich weiß) die erste, die einen Doktortitel erworben hat.

Bildungsweg und Beruf

Von Beginn an gute Noten in der Schule, ohne die ich kaum den direkten Weg zum Abitur und ins Studium genommen hätte. Interesse und Talent für Mathematik und Naturwissenschaften (wie meine Mutter, die ihre Schulbildung nach der 9. Klasse der Volksschule abbrechen musste). Mir wurde angeboten, die 11. Klasse zu überspringen (was ich ablehnte), und der Rektor meiner Schule meinte, ich solle Chemie oder eine andere Naturwissenschaft studieren.

Über den Unterricht im Fach „Werte und Normen“, das ich in Niedersachsen ab der 11. Klasse statt des evangelischen Religionsunterrichts wählen konnte, und das an meiner Gesamtschule behelfsweise von einem sehr klugen und freundlichen Geschichts- und Lateinlehrer unterrichtet wurde, verfestigte sich mein Interesse an Philosophie.

Erste Studienwahl Deutsche Sprache und Literatur, unter der völlig irregeleiteten Annahme, dass diese meinen schriftstellerischen Ambitionen dienlich wäre. Nach zwei Jahren (viel zu spät) abgebrochen, dann Magisterstudium der Philosophie. Meine Mutter hat mich während des Studiums in Deutschland finanziell unterstützt. Bafög und Jobs waren nie nötig (auch, weil ich keine Studiengebühren entrichten musste). Auf Stipendien habe ich mich in Deutschland nie beworben (und wurde dazu auch nie ermuntert). Im Rückblick bin ich der Meinung, dass eine Bewerbung mit meinem Hintergrund keine Chancen auf Erfolg gehabt hätte.

Einer meiner akademischen Lehrer im Magisterstudium, der vor meinem Abschluss nach Boston gewechselt war, empfahl mir, mich dort für ein Graduiertenstudium zu bewerben. Das war damals die einzige Bewerbung, die ich schrieb (ich hatte keine Vorstellung davon, was ich nach dem Studium mit meinem Leben anfangen wollte). Ich wurde angenommen, und ohne vorherige Auslandserfahrung zog ich in die Vereinigten Staaten. Im gesamten ersten Jahr des Graduiertenstudiums habe ich in Seminaren und Kolloquia überhaupt nicht gesprochen. Dissertation nach sechs statt der vorgesehenen fünf Jahre abgeschlossen. Danach zehn Jahre akademisches Prekariat (Lehraufträge, Post-doc, weitere Lehraufträge, WMA-Stelle, befristete Professur) in den Vereinigten Staaten, Schweden, Deutschland und den Niederlanden, erste unbefristete Stelle mit 41 Jahren.

Soweit ich das überblicke, bin ich der:die einzige deutsche trans und einzige nicht-binäre Philosoph:in mit einer unbefristeten Stelle in Europa (ich ganz allein bin die Lobby und die Cancel Culture).

Hindernisse und Unterstützung

Die guten Noten haben mit Sicherheit dazu beigetragen, dass mir nicht allein aufgrund meines familiären Hintergrundes der Bildungsweg an die Universität verschlossen blieb. Hinzu kommen die finanzielle Unterstützung meiner Mutter im Studium und die Förderung durch Lehrer:innen und Mentor:innen an Schule, Universitäten und im Arbeitsumfeld. Die Unterstützung durch erfahrene Kolleg:innen ist dabei bis heute wertvoll. Ich bin dankbar, dass ich mich aktuell in einem Arbeitsumfeld befinde, in dem unter Kolleg:innen gleichen Ranges mehr Solidarität als Konkurrenz gelebt wird, und in dem meine Forschungsinteressen als bereichernd wahrgenommen werden.

Mein familiärer Hintergrund hat für ein nachhaltiges impostor syndrome gesorgt. Das fehlende kulturelle Kapital und mein sozialer Habitus haben vor allem während meiner Zeit in den Vereinigten Staaten dazu geführt, dass ich meinen eigenen Fähigkeiten nicht mehr vertraute und es mir bis heute schwerfällt, selbstbewusst wissenschaftliche Interessen und Ambitionen zu formulieren. Hinzu kommen durch die schwierige Familiengeschichte bedingte psychische Verletzungen, die mich während des Studiums und während meiner Zeit im akademischen Prekariat teilweise stark behindert haben.

Trotzdem Philosophie?

Mein anfängliches Interesse an der Philosophie würde ich als ein historisches beschreiben: ich fand den Philosophieunterricht an der Schule und im Grundstudium spannend, weil sich mir erschloss, wie sich Theoriegebäude mit der Zeit entwickelt und aufeinander Bezug genommen haben. Dazu kam dann ein Interesse am „philosophischen Puzzle“: ein Argument nicht nur aufzudröseln, sondern auch eine eigene Position in Bezug auf ein solches Argument formulieren zu können.

Lange waren diese Interessen von meiner eigenen Geschichte und meinen Erfahrungen abgekoppelt: Philosophie war ein Weg, mich nicht mit mir und meinem Nahfeld auseinandersetzen zu müssen, sondern vermeintlich „objektiv“ auf die Welt zu blicken. Bei der Themenwahl meiner Magister- und meiner Doktorarbeit (Vergleich von Kants und Hobbes Staatstheorie, abstrakter Beitrag zur politischen Philosophie der Migration) fühlte ich mich verpflichtet, „echte“ philosophische Themen zu wählen anstelle der queeren und konkret-politischen Themen, die mich auch schon damals interessierten.

In den Jahren nach meiner Dissertation habe ich mir diese Themen erarbeitet, und dadurch zum ersten Mal das Gefühl gewonnen, mit einer eigenen philosophischen Stimme zu sprechen. Dennoch würde ich nicht von einem Bruch in meiner philosophischen Entwicklung sprechen; ich bin nicht von vermeintlich „sicheren“ und „objektiven“ philosophischen Themen in die Randbereiche der Disziplin gewandert, sondern befinde mich inmitten einer Disziplin, die (hoffentlich) diese „Randbereiche“ in ihr Zentrum holt, und so relevant bleibt. Die „klassischen“ historischen und analytischen Perspektiven, die mich für die Philosophie begeisterten, sind mir dabei weiterhin wichtig und bilden eine Grundlage (unter mehreren) meiner philosophischen Herangehensweise.

Maren Behrensen ist assistant professor an der Section of Philosophy der University of Twente, Enschede, Niederlande.

Aus dem akademischen Mittelbau

Erfahrungen eines anonymen Postdocs

Wie würdest Du Deinen sozialen Hintergrund beschreiben?

Meine Eltern haben die Schule mit einem Haupt- und einem Realschulabschluss verlassen. Danach haben Sie als Angestellte in Büros gearbeitet. Auch ihr Freundeskreis und mein soziales Umfeld vor der Studienzeit war ähnlich (Straßenbahnfahrer, Bergarbeiter, etc.). Meinen Eltern war es wichtig, dass ich eine Schule besuche, auf die mehrheitlich „normale Menschen“ gehen (und nicht etwa mehrheitlich Ärzte- und Anwaltssöhne und -töchter). Aus diesem Grund wurde ich nicht auf ein Gymnasium sondern auf eine Gesamtschule geschickt. Zu Akademiker:innen habe ich erst im Laufe des Studiums Kontakt gefunden.

Was waren für Dich besondere Schwierigkeiten, die mit Deinem Hintergrund zu tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?

Hier gibt es im Wesentlichen drei Punkte. Bei jedem dieser Punkte möchte ich betonen, dass die Auswirkungen in meinem Fall (weiß, männlich, ohne Migrationshintergrund) vergleichsweise moderat sind. Ich denke aber, sie verweisen auf strukturelle Probleme, die sich bei Personen aus weniger privilegierten Gruppen deutlich drastischer auswirken:

(a) Geld: Auf meiner Gesamtschule gab es keine Veranstaltungen oder Informationen zum Studium (das war und ist nicht auf jeder Gesamtschule so, passiert aber auch heute noch) . So hatte ich, bevor ich an die Uni kam, z.B. nie von der Möglichkeit gehört, durch Begabtenförderwerke finanzielle Unterstützung zu erhalten. Auch die Möglichkeit eines Auslandssemesters bestand für mich nur theoretisch: „Woher soll das Geld kommen?“ Zwar gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich finanzielle Unterstützung für derartige Vorhaben zu organisieren. Entsprechende Informationen waren allerdings zumindest zu meiner Studienzeit (Anfang der 2000er) nicht leicht zugänglich. Zudem ist die Unterstützung vielfach nicht ausreichend, wenn sonst keine Mittel vorhanden sind, die z.B. im Vorhinein ausgelegt werden können. Nun muss niemand ein Auslandssemester machen, um eine akademische Karriere zu starten. Doch ist dies freilich ein gewisser Vorteil, der mehrheitlich Personen zugutekommt, die (i) aus einem sozialen Hintergrund stammen, in dem Auslandserfahrungen während der Studienzeit etwas völlig normales sind und (ii) entsprechende finanzielle Ressourcen vorhanden sind.

(b) Habitus: Für eine erfolgreiche akademische Karriere ist ein gutes Netzwerk entscheidend. De facto werden Netzwerke vielfach während Konferenzdinners und ähnlichen Anlässen gebildet. Sich im Rahmen der dort teils vorherrschenden Üblichkeiten zurechtzufinden ist nicht einfach. Sobald sich das Gespräch von philosophischen Themen auf Themen wie Kunst, Kultur oder Skiurlaube schwenkt, wird man schnell vom Insider zum Outsider. Ähnliche Probleme ergeben sich bei Anlässen, mit denen gewisse Erwartungen im Hinblick auf das äußerliche Auftreten verbunden sind.

(c) Familie: Die meisten Personen aus meinem familiären Umfeld befinden sich in völliger Unklarheit, darüber, was meine Arbeit ist (bzw. ob es sich dabei überhaupt um echte Arbeit handelt). Es ist ihnen nicht ersichtlich, warum die Arbeit immer nur befristet ist und warum es sinnvoll sein könnte, auch während einer Periode ohne Arbeitsvertrag weiteren Anträgen und Aufsätzen zu arbeiten, weiterhin Hausarbeiten ehemaliger Studierender zu korrigieren, an Kommissionssitzungen und Tagungen teilzunehmen; warum es sinnvoll sein kann, auf ein höheres Gehalt zu verzichten, um stattdessen mit bestimmten Personen zu arbeiten, sich die Mühe zu machen, Bücher zu schreiben, wenn man anderen Verkauf keinen Cent verdient, warum man Stipendien „echten“ Jobs vorzieht, etc. Auf Dauer kann das zu einer nicht unerheblichen Belastung auf beiden Seiten führen: von Seiten der Familie ist da der nagende Verdacht, dass ich mir vielleicht seit Jahren auf Kosten der Steuerzahler ein faules Leben ohne geregelte Arbeitszeiten erlaube; von meiner Seite ist da die Unmöglichkeit, zu vermitteln, warum z.B. eine Veröffentlichung in der Erkenntnis ein wichtiger Karriereerfolg ist.

Was hat Dir dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?

Mentor:innen und Freund:innen spielen die größte Rolle, zudem der Kontakt mit anderen Erstgenerationist:innen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Generell ist da die Tatsache, dass es gerade in der analytischen Philosophie dann doch sehr viele Personen gibt, die es verstehen, sich auf Sachfragen zu beschränken, und die sich ihrer eigenen sozialen Identität und den damit verbundenen Vorstellungen von Normalität bewusst sind.

Gibt es besondere Einsichten oder Perspektiven, die Du Deinem Hintergrund verdankst und die für Deine philosophische Forschung oder Lehre von besonderem Wert sind?

Ich versuche meine Erinnerung an die ersten Studiensemester präsent zu halten, da ich mir erhoffe, dass meine Erfahrungen von damals mir ein wenig helfen, Studienanfänger:innen auf Augenhöhe zu begegnen. Es ist erstaunlich, dass viele Lehrende implizit (und sicherlich unbewußt und in guter Absicht), davon ausgehen, dass die Studierenden ein gewisses bildungs-sprachliches Vokabular beherrschen und sich bestimmter Rede- und Höflichkeitsformen bewusst sind. Das ist aber gerade bei Personen aus einem nicht-akademischen Umfeld eben nicht selbstverständlich. Es kann dazu führen, dass solche Personen selbst den normalen Besuch in einer Sprechstunde als eine große Herausforderung empfinden. So wie Mediziner:innen häufig als „Halbgötter in weiß“ empfunden werden, werden Dozierende (zumal solche mit Professor:innentitel) als unnahbare Halbgötter empfunden.

Der Verfasser dieses Beitrags ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer deutschen Universität.

Corina Strößner

Ich bin in einer ostdeutschen Kleinstadt aufgewachsen. Meine Mutter war 16 Jahre alt als ich geboren wurde. Die ersten Jahre lebte ich zusammen mit ihr bei meiner Oma. Meine Kindheit war noch stark von der DDR und ihren Institutionen (Wochenkrippe, Kindergarten und ein paar Jahre Polytechnische Oberschule) geprägt. Nach der Wende hat meine Mutter an einer Abendschule das Abitur nachgeholt. Sie hat aber nie eine Uni besucht. Wir wohnten erst in einem Altbau und später in einer Plattenbausiedlung, ein Wohnumfeld, das in den 90ern von Armut und leider auch Neonazis geprägt war. Es gab seitens meiner Mutter allerdings immer ein Bedürfnis nach Bildung. Wir waren in Bibliotheken, manchmal im Theater, in Museen. Während wir zwar von Sozialhilfe lebten, war ich in dieser Hinsicht durchaus privilegiert. Um einem gewaltvollen sozialen Umfeld in der Mittelschule (sächsisches Pendant zur Haupt- & Realschule) zu entgehen, wechselte ich ab der siebten Klasse auf das Gymnasium. Am Anfang hatte ich mir das eigentlich nicht zugetraut und für unpassend empfunden. Mit der Zeit fand ich aber im Unterricht meine Nischen. Irgendwann war dann klar, dass ich mich eher im kognitiven als im praktischen Bereich entfalten kann und an die Uni gehe. Heute erscheinen mir die sozialen Gepflogenheiten des akademischen Lebens oft noch befremdlich. Ich bin nicht wie ein Fisch in seinem Teich, sondern in ganz fremden Gefilden. Zumindest in meinem Arbeitsreich ist der soziale Rahmen sehr weit und es herrscht eine große Toleranz, so dass man sich nicht allzu sehr verstellen muss.

Ich glaube nicht, dass meine Herkunft mir besondere Einblicke eröffnet. Philosophie erscheint mir egalitär und universell oder zumindest ist das ein Anspruch, den ich mit ihr verbinde. Ich glaube aber, dass kognitive Diversität diesem Zweck dienlich ist. Insofern ich von anderen politischen und soziale Systemen geprägt wurde als viele andere Personen in der Philosophie, kann ich dazu vielleicht ein Stück weit beitragen.

Corina Strößner arbeitet derzeit bei Birkbeck, University of London. Zuvor war sie an der Ruhr Universität Bochum und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Johannes Steizinger

Ich bin im ländlichen Raum Österreichs aufgewachsen und komme aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Mein Vater ist Bäckermeister, hat jedoch den Großteil seines Lebens in einer Fabrik gearbeitet, wo er sich gewerkschaftlich organisiert und zum freigestellten Betriebsrat hochgearbeitet hat. Meine Mutter ist ausgebildete Köchin und hat als Kellnerin, Reinigungskraft und Heimhilfe im Altersheim gearbeitet. Der bürgerliche Bildungskanon spielte in meinem Elternhaus keine Rolle. Meinen Eltern war es jedoch wichtig, dass meine Brüder und ich eine gute Ausbildung genießen—eine Einstellung, die im sozialdemokratischen Österreich der 1970er kultiviert wurde. Ich hatte das große Glück, dass ich an entscheidenden Stellen meines Bildungsweges von Mentor:innen gefördert wurde. In der ersten Klasse Volkschule machte eine Lehrerin meine Eltern darauf aufmerksam, dass ich studieren sollte und eröffnete mir damit eine Möglichkeit, die sozial nicht unbedingt vorgesehen war. 

Es war die Sprache, anhand derer ich seit meinem Eintritt in eine Bildungslaufbahn immer wieder auf die Bedeutung von Klassenunterschieden gestoßen wurde. Mein Deutschlehrer machte sich in der Unterstufe des Gymnasiums vor der gesamten Klasse über mich lustig, weil ich ein alltägliches Wort im Idiom meiner Herkunftsklasse aussprach. Und meine Klassenlehrerin machte sehr deutlich, dass ich aufgrund meiner etwas roheren Verhaltensweisen, die sie auf meine fehlende Erziehung zurückführte, keinen Platz in der bürgerlichen Idylle eines humanistischen Gymnasiums habe. Diese Erfahrungen stachelten zum einen den Rebellen in mir auf, zum anderen bewirkten sie starke Anpassungsleistungen, um mir den Wunsch eines intellektuellen Lebens zu erfüllen. Als ich mit 18 Jahren zum Studieren nach Wien ging, ließ ich das Idiom meiner Eltern hinter mir und erfand mich sprachlich komplett neu. Manchen war aber auch das nicht genug. Ein bekannter deutscher Professor riet mir auch die letzten Reste meine österreichischen Akzents zu eliminieren, um in Deutschland eine Chance auf eine Professur zu haben. 

Diese fortlaufende Anpassung an immer feinere Unterschiede und Besonderheiten des Bildungsbürgertums bewirkte eine tiefe Entfremdung von meinem sozialen Hintergrund. Die Erfahrungswelt meiner Eltern spielt im universitären Kontext keine Rolle. Das in der Kindheit und Jugend erlernte Alltagswissen wurde deshalb weitgehend nutzlos und jeder meiner Karriereschritte war mit einem zusätzlichen Lernaufwand verbunden. Studieren bedeutete für mich auch einen sozialen Code zu entschlüsseln, der mir fremd war und in dem mich nie ganz heimisch fühlen werde. Deshalb hatte ich oft das Gefühl auf mich allein gestellt sein. Auch diese Erfahrung hatte eine ambivalente Wirkung. Zum einen gewann ich viel an Selbstsicherheit, weil ich akademische Erfolge komplett als die meinen begreifen konnte. Zum anderen fehlte mir aber oft die Gelassenheit, die auf der Gewissheit beruht, schon dazuzugehören. 

Mein sozialer Hintergrund beeinflusst meine philosophischen Interessen auf unterschiedliche Weise. Ich finde es wichtig, die Geschichte der Philosophie auch als eine Sozialgeschichte zu begreifen, um die soziale Position und das soziale Selbstverständnis von Philosoph:innen zu berücksichtigen. Das hat, glaube ich, auch damit zu tun, dass ich durch den radikalen Wechsel der sozialen Schicht erlebte, wie stark die Anerkennung von Wissensformen und die Beurteilung von Verhaltensweisen sozial geprägt sind. Beispielsweise belegen zahlreiche sozialpsychologische Studien, wie sehr moralischen Intuitionen von unserem sozialen Hintergrund bestimmt sind. Ich sehe keinen Grund, weshalb (akademische) Philosoph:innen, die auch eine bestimmte Position im Gesellschaftsgefüge inne haben und eben keine freischwebenden Intellektuellen sind, von dieser Prägung ausgenommen sein sollen. 

Zudem habe ich viel vom zweiten Bildungsweg meines Vaters gelernt, der ihm durch die Gewerkschaft ermöglicht wurde. Mir ist durch seine intellektuelle Entwicklung deutlich geworden, wie wichtig soziale Räume sind, in denen Selbstbildung durch Austausch auf Augenhöhe ermöglicht wird. Nicht zuletzt deshalb ist mir ein gewisser Widerstand gegen die hierarchischen Strukturen des Universitätsbetriebs erhalten geblieben, in dem die Lehre immer noch zu stark auf der Autorität der Professor:in beruht. Die sozialen Grundlagen dieser Autorität verweisen aber auch auf meine privilegierte Position als weißer Mann, die viel damit zu tun hat, dass ich meinen Weg erfolgreich gehen konnte.

Johannes Steizinger ist Associate Professor of Philosophy an der McMaster University (Hamilton, Kanada). 

Christine Chwaszcza

Wie würden Sie Ihren sozialen Hintergrund beschreiben?

Mütterlicherseits: Landwirtschaft; väterlicherseits: Handwerk. Prägend für beide Elternteile scheinen mir jedoch die Kriegs- und Fluchterfahrungen in früher Jugend bzw. Adoleszenz zu sein und das damit verbundene Gefühl „Du gehörst hier nicht hin. Du musst erst einmal zeigen, dass Du es verdienst, respektiert zu werden“.

Ansonsten: durchgängig misogyn. – Intelligenz, Bildung und Wissen waren in meiner Familie etwas für „Jungs“. Bei den Mädchen zählten vor allem heiratsförderliche Eigenschaften wie „gute Kuchen backen“, „schöne Beine“ und „häusliche Fleißarbeit“. Den Weiterbesuch des Gymnasiums musste ich nach dem frühen Tod meines Vaters gegen den Wunsch meiner Mutter durchsetzen. Als ich ein Studium begann, fragten einige Verwandte „Warum studierst Du? Hast Du keinen Freund? Willst Du, dass Deine Kinder Oma zu Dir sagen?“

Was waren für Sie besondere Schwierigkeiten, die mit Ihrem Hintergrund zu
tun hatten oder haben, und gibt es ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die diese gut veranschaulicht?

Für mich war das Studium eine Befreiung von der Familie. Das erste Studienjahr
habe ich mir geschenkt und Griechische Philologie belegt, weil der Griechisch-Leistungskurs so enttäuschend gewesen war. Danach begann ich ein Lehramtsstudium, weil das einer der vier akademischen Berufe war, die mir bekannt waren. Die Erfahrung eines studienbegleitenden Praktikums zeigten aber bald, dass ich mich nicht für das Lehramt erwärmen konnte, sondern es genoss, mich in Forschungsfragen zu vertiefen. Ich bekam früh eine Stelle als Hilfskraft angeboten und hatte während dieser Zeit viel Unterstützung durch Dozenten und fortgeschrittene Mitstudierende, nicht zuletzt in den Magistranden- und Doktorandenseminare, die ich als enorm lehrreich wahrnahm. Ähnliches gilt auch für die Zeit vor und nach der Promotion und die Zeit als wissenschaftliche Assistentin. Inhaltlich bewegte ich mich stringent vom Literatur- und Sozialwissenschaftsstudium zur Philosophie, genauer gesagt zur analytischen Philosophie (am Stegmüller-Institut der LMU). Vorbehalte, sofern es welche gab, richteten sich eher gegen mein Interesse an normativer politischer Philosophie – im Gegensatz zu Logik und Erkenntnistheorie – und analytischer Philosophie – im Gegensatz zu Hegel, Hermeneutik und Heidegger.

Erst nach der Habilitation hatte ich öfter Mal das Gefühl als „bunter Vogel“ wahrgenommen zu werden, der nicht dazu gehört. Retrospektiv würde ich dies aber eher meinem Frausein zuschreiben als meiner Herkunft. Nach einem Vorsingen sagte einmal ein sehr bekannter Professor zu mir: „Frau Chwaszcza, Sie werden in Deutschland nie eine Professur bekommen. Sie ja viel zu klein. Sie können ja noch nicht mal über das Rednerpult schauen.“ Ein andermal wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, an einem Projekt der Architektur zur Ästhetik von Parkhäusern aus feministischer Perspektive mitzuarbeiten. Als ich zurückfragte, ob diese Frage auch männlichen Bewerbern gestellt wird, war der einhellige Ärger der Kommissionsmitglieder deutlich spürbar.

Was hat Ihnen dabei besonders geholfen, diese oder andere Schwierigkeiten zu überwinden, und gibt es auch hier ein Beispiel für eine Erfahrung oder Anekdote, die dies gut veranschaulicht?

Ich nehme an verschiedene Dinge: eine autokompetitive Orientierung an akademischen Standards, workaholism, akademische Auslandserfahrungen und ein ungebrochenes Interesse an philosophischen Fragestellungen. Vielleicht: eine intergenerationell ererbte Resilienz gegen Fremdheitserfahrungen. Definitiv: die großartige Unterstützung meiner philosophischen Projekte durch meinen Ehemann.

Gibt es besondere Einsichten oder Perspektiven, die Sie Ihrem Hintergrund
verdanken und die für Ihre philosophische Forschung oder Lehre von besonderem Wert sind?

Inhaltlich-sachlich: Eine profunde Wertschätzung des common sense – die konsequent zur Orientierung an der ordinary language Philosophie geführt hat.

Studienorganisatorisch: Ohne Schüler-Bafög hätte ich weder das Gymnasium abschließen noch ein Studium beginnen können. Ich halte diese Form der Förderung für enorm wichtig und finde, dass es für ihre Aufrechterhaltung auch wichtig ist, das Studium abzuschließen und die Darlehen zurückzuzahlen.

Auch die Einbeziehung junger Studierender in akademisches Arbeiten über HiWi Stellen und Lehraufträge ist nicht nur eine intellektuelle Förderung, sondern ein Modus sozialer Integration, der zeigt, „wie der Betrieb funktioniert“ (auch wenn man Manches erst retrospektiv versteht).

Ein Promotionsstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung habe ich nach einem Jahr zurückgegeben, weil der Betrag für ein Leben in München einfach zu gering bemessen war. Ich habe die Promotion stattdessen durch einen „Job“ finanziert. Das hat mich auch gelehrt, meine Forschung gut zu organisieren, mich auf die entscheidenden Punkte zu fokussieren und einzusehen, dass man Arbeiten auch abschließen kann, ohne alle Fragen erschöpfend beantwortet zu haben. Es gibt auch post-doktorale Forschungsprojekte! Meine persönliche Erfahrung ist: die frühe finanzielle Förderung ist wichtiger als die späte.

Christine Chwaszcza ist Professorin für Politische und Sozialphilosophie an der Universität zu Köln.