Ein Beitrag von Henning Franzen
Die ersten vier der hier auf der Online-Plattform gestellten sechs Fragen entsprechen im Grunde vier Schritten einer typischen ethischen Fallanalyse. Dabei geht es vor allem darum, eine erste Meinung zu einem ethischen Problem zu entwickeln, diese sorgfältig und kritisch zu prüfen und am Ende zu einem hoffentlich gut durchdachten Urteil zu kommen. Man kann diesen Prozess grob in vier Schritte, die den vier Fragen entsprechen, unterteilen:
Schritt 1 – die erste Meinung zur Sache
(„Was ist hier los?“)
Zu vielen ethischen Fragestellungen haben wir spontane Meinungen, Intuitionen, Vorausurteile. Bei schwierigeren Fragen auf neuem Terrain wie beispielsweise im Zusammenhang mit CRISPR/Cas müssen wir vielleicht kurz in uns hineinhorchen, kurz nachdenken, aber meist zeigt sich doch eine erste Haltung zur Problematik. Wenn diese erste Meinung nun zu einem Argument entwickelt wird, zeigt sich, an welchen Stellen die kritische Prüfung ansetzen kann.
Ich bin gegen Eingriffe in die menschliche Keimbahn, denn das ist viel zu riskant – wer weiß, welche langfristigen Schäden dabei entstehen können, die wir noch gar nicht erahnen!
Schritt 2 – die Situationsanalyse
(„Worum geht es überhaupt?“)
Nicht nur bei neuen gentechnischen Verfahren, auch in anderen Zusammenhängen fehlen uns zunächst häufig genaue Kenntnisse der Situation, um kompetent urteilen zu können. Die Annahmen über die Situation, die in der ersten Prämisse des nebenstehenden Arguments formuliert werden, müssen also geprüft werden: Welche Risiken könnten denn tatsächlich auftreten? Zwar wird man von der Biologie keine vollständige Risikoauflistung erwarten können, dennoch lassen sich mit biologischer Expertise mögliche Risiken besser abschätzen als ohne. Auch lässt sich erst nach genauerer Beschäftigung mit CRISPR/Cas sagen, welcher mögliche Nutzen den möglichen Risiken gegenübersteht. Dann wäre ggf. ethisch abzuwägen, ob der mögliche Nutzen die Risiken überwiegt. Doch das führt schon zu Schritt 3.
- Wenn wir mit Hilfe gentechnischer Verfahren in die Keimbahn menschlicher Embryonen eingreifen, birgt dies unkalkulierbare Risiken.
- Wir sollten andere nicht unkalkulierbaren Risiken aussetzen.
- ALSO sollten Eingriffe in die menschliche Keimbahn unterbleiben.
Schritt 3 – die normative Analyse
(„Welche Normen und Werte sind wichtig?“)
Auch die zweite Prämisse bedarf einer Prüfung. Hier geht es jedoch nicht vorrangig um die tatsächliche Situation, sondern um die Bewertungsmaßstäbe, die wir ansetzen, um das Problem ethisch zu beurteilen. Sollten wir wirklich andere nicht unkalkulierbaren Risiken aussetzen? Selbst dann nicht, wenn ein großer Nutzen mögliche wäre? (Wenn man bspw. eine schwere Erbkrankheit schon beim Embryo heilen könnte?)
Ein moralischer Grundsatz, wie in Prämisse 2 formuliert, der auf den ersten Blick überzeugend scheint, könnte zweifelhaft werden, wenn man ihn z. B. im Lichte anderer Situationen betrachtet: Setzen wir uns und andere nicht auch Risiken aus, wenn wir auf der Autobahn in den Urlaub fahren? Wiegt der „Nutzen“ des Urlaubs nicht das Risiko eines schweren Unfalls auf? Andererseits ist das Risiko des Verkehrsunfalls vielleicht nicht vergleichbar mit dem Risiko von Keimbahneingriffen … oder doch?
Bei der Beantwortung solcher Fragen können der Rückgriff auf Normen und Werte, auf allgemeine ethische Theorien ebenso helfen wie konkrete Überlegungen anderer zur vorliegenden Fragestellung. Doch das führt schon zu Schritt 4.
Manchmal allerdings führen die Überlegungen hier sogar noch einmal zurück zu Schritt 2, zu vertiefter Sachklärung, wenn beispielsweise für eine ethische Abwägung noch einmal der genaue mögliche Nutzen bestimmt werden muss.
Schritt 4 – das (vorläufig) abschließende Urteil
(„Wie komme ich zu einem Urteil?“)
Beim Durchlaufen der ersten drei Schritte haben wir eine Menge über Genetik und CRISPR/Cas gelernt. Wir können die Methode und ihre Chancen und Risiken nun genauer einschätzen. Auch haben wir moralische Grundsätze und Wertmaßstäbe geprüft. Vielleicht haben wir festgestellt, dass wir zunächst deontologisch argumentiert haben, aber dann erschien uns eine utilitaristische Argumentation doch überzeugender. Vielleicht haben wir uns auch von der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats oder anderen inspirieren lassen.
Nach alledem kann es sein, dass wir unsere erste Meinung geändert haben und nun gentechnischen Eingriffen in die menschliche Keimbahn gar nicht mehr so ablehnend gegenüber stehen. Das wäre ein Fortschritt in unserem Urteilsbildungsprozess. Aber natürlich kann es auch sein, dass wir bei unserer ersten Ablehnung geblieben sind, diese jetzt aber viel besser begründen können. Auch das wäre ein entsprechender Fortschritt.
Und schließlich, das darf nicht vergessen werden, ist der Urteilsbildungsprozess niemals abgeschlossen. Neue Erkenntnisse, neue Argumente können unser vorläufig abschließendes Urteil immer wieder in Frage stellen und erneute Prüfungen anregen. Solches sollten wir als Gewinn betrachten, denn es geht ja nicht ums „Recht behalten“, sondern um möglichst gut begründete Positionen zu ethischen Fragestellungen, die, so jedenfalls wäre es ideal, im gesellschaftlichen Diskurs zu vernünftigen und vertretbaren Entscheidungen und Handlungen führen. Aber das führt schon zu Frage fünf … was kann ich tun?