Stehe zu deinem Urteil!

Ein Beitrag von Christoph Fritze


Was ist damit gemeint?

Seit einiger Zeit hört man immer mal wieder den meist in trotziger Haltung geäußerten Satz: „Und dazu stehe ich auch!“ Oft wird damit die Absicht verfolgt, eine fragwürdige Meinung oder Praxis vor Zweifel und Kritik abzuschotten. Z.B. könnte jemand, der sich in einem Kreis ernährungskritischer Leute bewegt, sagen: „Ich esse regelmäßig Fleisch und dazu stehe ich auch!“, um seine fragwürdige Konsumgewohnheit nicht ernsthaft zu prüfen und ändern zu müssen. Brust raus und mutig gegen die politisch korrekte Kritik der Gruppe gestanden, das wirkt stark und funktioniert auch oft. Die zur Schau gestellt Selbstsicherheit paralysiert die Diskussion und lässt sie verstummen. Der Mann wird akzeptiert, obwohl er gegen die Kritik am Fleischessen nicht ein einziges Argument ins Feld geführt hat. Dieses sich in die Brust werfen und zu irgendetwas ostentativ „stehen“, es sich aber eigentlich bequem machen, da man von seinen Interessen nicht abzurücken gedenkt und jede Irritation seiner Meinung abwehrt, diese Art des „zu etwas stehen“ ist hier natürlich nicht gemeint!

Gemeint ist hingegen, es sich gerade nicht bequem zu machen. Beispiel Mobbing. Sich auf einen Menschen einzuschießen, wenn es alle machen, generiert irgendwie Lustgewinn, ist bequem, aber natürlich schäbig.

Das Verhalten der Mobber falsch zu finden und deswegen logischerweise zu dem Schluss zu kommen, dass man eigentlich etwas tun muss, aber sich rauszuhalten, ist vielleicht ein wenig ungemütlich, aber natürlich immer noch ziemlich bequem. Sich aber z.B. gegen die Mobber zu stellen und damit gegen die natürliche Neigung, es sich eher angenehm und bequem zu machen, und sogar oft gegen die eigene Neigung, über jemanden herzuziehen (denn es ist ja nicht selten so, dass man selbst den Gemobbten eher unsympathisch findet), oder, wenn man Angst vor den anderen hat, wenigstens einen Verantwortlichen aufzusuchen und auf Eingreifen drängen, also etwas zu tun, mit allen Risiken, selbst unbeliebt und zum Angriffsziel zu werden, das ist unbequem – aber genau das ist gemeint.

Was hat das mit dem Ausdruck Urteil zu tun? Dass man etwas, eine Verhaltensweise, eine Handlung einen Zustand schlecht oder gar böse findet, das ist eine moralische Aussage, Philosophen sagen statt Aussage auch Urteil. Mobbing böse zu finden, ist ein moralisches Urteil, eine moralische Aussage, eine moralische Meinung. Das ist hier gemeint.

Zu seinem Urteil kann man eigentlich nur stehen, wenn man der Überzeugung ist, dass dieses Urteil wahr bzw. richtig ist, und diese Überzeugung hat man zu Recht, wenn man sein Urteil (seine Meinung) gut begründet hat, bei der man also der Anstrengung des guten Begründens nicht ausgewichen ist. Jetzt erst macht das Reden vom „zu seinem Urteil stehen“ Sinn. Es meint hier gegen etwas stehen. Man steht gegen Neigungen, gegen die Neigung, es sich bequem im Denken zu machen – und im Tun (wie der Fleischesser).

Denn ein moralisches Urteil ist logischerweise immer eine Aufforderung, etwas gegen den erkannten Missstand zu tun. Hier zeigt sich ein weiterer Bedeutungsaspekt von „zu seinem Urteil (seiner Meinung) stehen“, nämlich: Sich in einer Einheit mit seiner Meinung zu befinden, „eins sein“ mit seinem Urteil, mit ihm als Mensch übereinzustimmen, und das heißt dann logischerweise auch, sich zum Handeln aufgefordert zu fühlen und im Endeffekt irgendetwas zu tun, was den Missstand beseitig oder dämpft. Nachdem man sich also der Unbequemlichkeit und Anstrengung des Nachdenkens und Begründens unterzogen hat, geht es nun darum, gegen die Unbequemlichkeit des Handelns und was mit ihm zusammenhängt, zu „stehen“, d.h. zum Beispiel gegen die eigene Angst vor Peinlichkeit, gegen die Angst vor den nicht recht abschätzbaren Folgen für einen selbst, gegen die Angst vor dem Scheitern usw. Das ist eigentlich in seiner „Logik“ trivial. Ganz und gar nicht trivial ist das aber, wenn man in der Wirklichkeit der Situation selbst steckt und, wenn es an mir liegt, den Rücken gerade zu machen und etwas zu tun – oder eben nicht.

Ebenfalls nicht trivial ist eine weitere Schwierigkeit, die dann entsteht, wenn es Unsicherheiten in der Beurteilung der Situation gibt, und das ist ja oft so, weil viele Situationen nicht so einfach zu beurteilen sind wie Mobbing. Viele Situationen sind dilemmatisch: Soll man diesen armen Teufel, den man beim Klauen erwischt hat, anzeigen oder laufen lassen, um an einem einfachen Beispiel zu demonstrieren, was gemeint ist. In unseren komplexen hochtechnifizierten Gesellschaften sind viele Konflikte unglaublich komplex: Soll mit der Technik des Genom Editing eine Genkonstellation eines ungeborenen Menschen, die zu einer Erbkrankheit führen würde, umgebaut werden oder nicht? Soll man also in einer Weise in die Genausstattung eines Menschen zielgerichtet eingreifen, die zwangsläufig der Selbstbestimmung des Betreffenden entzogen ist? Sehr oft ist unklar, was richtig, was falsch ist, besser: was „richtiger“ bzw. „falscher“ ist, denn das ist die Eigenart solcher Dilemmata, dass es für und gegen beide Alternativen gute Gründe gibt.

Nun stellen wir uns vor, dass man sich bei einem solchen komplexen Konflikt ein profundes Urteil gebildet hat, man hat sich dabei viel Mühe gegeben, hat Informationen eingeholt, mit den Beteiligten gesprochen, Argumente formuliert, mit Freunden die Sache durchdiskutiert, nachgedacht und abgewogen, und nun hat man Courage bewiesen und gehandelt. Und oft hat man ja gar nicht viel Zeit, manchmal muss man sehr schnell agieren, dann wird die Sache noch wesentlich unsicherer. Aus dieser Perspektive bedeutet zum Urteil zu stehen auch, das Risiko, dass man vielleicht nicht richtig liegt, dass man besser andersherum entschieden hätte, auf sich zu nehmen.

Genau besehen ist das in fast jeder komplexen moralischen Situation so, denn ob meine Einschätzung der Situation in ihren zahllosen Aspekten in Bezug auf das, was ich richtig und falsch finde und wie ich dann entsprechend handle, wirklich passt, ist niemals mit letzter Gewissheit zu sagen. Hier muss man in gesteigerter Form als Person zu seinem Urteil und seiner Handlungsweise stehen, man „steht“ in der Weise, dass man etwas auf sich zukommen lässt, was man nicht einschätzen kann, man lässt sich involvieren, man riskiert, sich gegebenenfalls unglücklich zu verstricken, man riskiert, unglücklich zu agieren, man riskiert „Fehler“ zu machen. Stand zu haben in seiner moralischen Haltung, und damit ernst zu machen trotz der Möglichkeit zu scheitern, darum geht es. Sich vor Augen zu führen, dass man sich als Mensch vor Situationen gestellt sehen kann, in der man „Größe“ zeigen muss, dass man Entscheidungen fällen muss, deren Richtigkeit trotz reiflicher Überlegungen nicht gewiss ist, dass man damit rechnen muss, sich später mit einer sich als unglücklich erwiesenen Entscheidung und deren Folgen konfrontiert zu sehen, und bereit sein muss, in einem solchem Fall Zweifel und Kritik zuzulassen, vielleicht auch Fehler einzugestehen und dieses Verstricktsein – von Schuld zu sprechen wäre missverständlich – zu tragen.

Es ist klar, dass nicht jeder solch schwierigen Situationen gewachsen ist. Wer kann von sich sagen und wissen, dass er z.B. in einer Diktatur Grausamkeiten mutig entgegentreten würde? Klar ist aber auch, dass wir es richtig finden, gegen Ungerechtigkeiten aktiv zu werden, dass wir Menschen, die dies tun, für „gute Menschen“ halten, und klar ist, dass es zwischen Nichtstun und sein Leben riskieren meist große Spielräume gibt. Teste aus wie groß Dein Spielraum ist! Vielleicht willst du ihn dann erweitern. Übe dich ein, im „zum eigenen Urteil stehen“, übe dich im emphatischen Sinne Mensch zu sein, denk nach, steh auf und zeig dich!