Das Prinzip des Glücks – Eudämonismus
Vorgestellt von Annett Wienmeister
Neben dem Hedonismus ist ein weiterer teleologischer Ansatz der Eudämonismus. Er ist ebenfalls eine Form der Glücksethik, aber er versteht den Begriff des Glücks anders und vor allem weiter als die Beförderung von Lust und die Vermeidung von Unlust. Der Name Eudämonismus ist vom altgriechischen Wort εὐδαιμονία (eudaimonía) abgeleitet, das so viel bedeutet wie „Glück“ und „Glückseligkeit“. Ein ganz prominenter Vertreter dieser Position ist Aristoteles, der noch vor Epikur in der Antike gelebt hat.[1]
Das Glück als das letzte Ziel menschlichen Handelns
Welche Antwort gibt Aristoteles auf die Frage, was eine Handlung als moralisch gute Handlung auszeichnet? Er macht zunächst eine Feststellung: Er behauptet, dass alle Handlungen, die Menschen ausführen, ein Ziel haben – er nennt dieses Ziel auch ein Gut. Die meisten dieser Ziele sind dabei lediglich Zwischenziele – so möchte ich beispielsweise einkaufen gehen, um etwas zum Essen zu kochen. Essen kochen möchte ich, weil ich Freunde einladen und bewirten mag und das tue ich wiederum, weil ich ihnen eine Freude machen oder sie von meinen Kochkünsten überzeugen möchte. Aristoteles meint nun, dass diese Kette von Zwischenzielen nicht unendlich sein kann, weil das menschliche Streben nach Erfüllung von Zielen sonst vergebens sei. Vielmehr liege am Ende einer solchen Kette von Zwischenzielen hin zu immer höheren Zielen ein letztes Ziel, um dessentwillen Menschen letztlich alle anderen Ziele verfolgen und das selbst nicht noch einmal ein Zwischenziel für ein noch höheres Ziel oder Gut ist. Es ist eine Art „abschließendes Ziel“ – und das ist eben für Aristoteles das Glück. Das Glück macht das Leben lebenswert und unsere Handlungen letztlich gut.
Worin besteht das Glück: Lust, Reichtum, Ehre?
Worin besteht nun das Glück? Diese Frage, so Aristoteles, ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil verschiedene Menschen natürlich ganz verschiedene Antworten darauf geben. Er schaut sich deshalb drei gängige Meinungen dazu an und weist alle zurück: Zum ersten kann das Glück nicht in einem Leben voller Lust bestehen, weil sich der Mensch dabei wie die Tiere sklavenhaft seinen Begierden und Trieben unterwirft und nicht frei handelt. Zum Zweiten kann ein glückliches Leben nicht im Streben nach Reichtum bestehen, weil Reichtum Aristoteles zufolge lediglich ein Zwischenziel zur Erreichung höherer Ziele ist. Zum dritten ist es auch nicht die Ehre, nach der alle Menschen letztlich streben, da die Anerkennung von Ehre zu sehr von anderen Menschen abhängig ist. Das höchste Gut habe aber einen eigenständigen Status, den man einer Person nicht einfach so wegnehmen kann, wie das evtl. bei der Aberkennung von Ehre der Fall wäre.
Glück und Vernunft
Wenn es diese drei – Lust, Reichtum, Ehre – nicht sind, wie kommen wir dann zu einer näheren Bestimmung dessen, was das höchste Gut menschlichen Handelns ist? Aristoteles zufolge müssen wir uns dafür anschauen, was menschliches Handeln auszeichnet, das heißt welche besondere Funktion das Handeln der Menschen hat – im Gegensatz etwa zu den Dingen, die Pflanzen und Tiere tun. Während Pflanzen durch Ernährung und Wachstum gekennzeichnet sind und Tiere darüber hinaus noch über das Wahrnehmungsvermögen, zeichnet die Menschen zusätzlich und ganz grundlegend deren Vernunft aus. Laut Aristoteles haben allein Menschen Vernunft, mithilfe derer sie entweder selber denken können oder aber dem Denken anderer (z. B. ihrer Vorbilder) folgen können. Das höchste Gut besteht nun darin, ein Leben zu führen, in welchem wir genau diese spezifische Eigenschaft des Menschen, Vernunft zu besitzen, auch tatsächlich ausüben. Gutes und somit Glück bewirkendes Handeln zeichnet sich somit als vernunftgeleitetes Handeln aus.
Tugendhaft handelt, wer zwischen zwei Extremen die rechte Mitte findet
Aristoteles über Tugend
„Die Tugend ist also eine Disposition [Haltung], die sich in Vorsätzen äußert, wobei sie in einer Mitte liegt, und zwar der Mitte in Bezug auf uns, die bestimmt wird durch Überlegung, das heißt so, wie der Kluge sie bestimmen würde. Sie ist die Mitte zwischen zwei Lastern, von denen eine auf Übermaß, das andere auf Mangel beruht.“ (Nikomachische Ethik, Zweites Buch, Abschnitt 6).
Jetzt können wir allerdings gleich weiterfragen – was sind vernunftgeleitete Handlungen, die uns glücklich machen? Aristoteles nennt diese Handlungen auch tugendhafte Handlungen. Tugendhaft handelt, wer zwischen zwei Extremen das rechte Maß oder die rechte Mitte findet. Wenn man etwa in eine furchterregende Situation gerät, gilt es die Mitte zu finden zwischen einem Mangel – das wäre die Feigheit – und einem Übermaß – das wäre Tollkühnheit. Wer tollkühn handelt, handelt aus einem die Gefahr unterschätzendem Wagemut. Laut Aristoteles ist die rechte Mitte zwischen diesen beiden Extremen die Tapferkeit. Wir handeln also tugendhaft, wenn wir in einer furchterregenden Situation tapfer handeln. Nehmen wir noch ein Beispiel: Wenn wir abwägen müssen, wie spendabel wir sein wollen, findet sich eine Mitte zwischen den beiden Extremen des Geizes auf der einen Seite und der Verschwendung auf der anderen Seite. Diese Mitte ist die Freigebigkeit. Während Aristoteles die Mitte als Tugend bezeichnet (das altgriechische Wort für Tugend lautet ἀρετή [aretḗ]), werden die beiden Extreme des Mangels und des Übermaßes Laster genannt. Neben Tugenden und Lastern gibt es ihm zufolge aber auch Handlungen, die an sich schlecht sind, bei denen es also keine gute Mitte gibt, so z. B. Schadenfreude, Ehebruch, Diebstahl oder Mord.
Wie bestimme ich nun diese Mitte und komme damit zur tugendhaften Handlung? Aristoteles denkt hier nicht an eine Art mathematische Berechnung der Mitte einer bestimmten Menge. Es ist auch nicht so, dass die Mitte zwischen zwei Extremen in jeder Handlungssituation gleich ist – es kommt dabei immer auf die Umstände an. Was für eine ängstliche Person schon tapfer ist, kann für eine wagemutige Person noch feige sein. Die Bestimmung der rechten Mitte hängt darüber hinaus auch noch von den Zielen und Zwecken der beteiligten Personen ab und auf welche Weise sie diese verfolgen, aber auch vom Ort und der Zeit. All diese Dinge müssen wir berücksichtigen, wenn wir überlegt mit unseren eigenen Leidenschaften umgehen und somit unsere Charaktertugenden ausbilden wollen.
Wie findet man die rechte Mitte?
Das hört sich alles recht kompliziert an. Und es stimmt, für Aristoteles ist es eben nicht so, dass es im Bereich des praktischen Handelns allgemeingültige Regeln ohne Ausnahmen gibt, die wir nur einmal kennen müssen, um zu wissen, was jeweils zu tun ist. Vielmehr ist es so, dass wir für Fragen des guten Handelns im Verlauf unseres Lebens eine Art Klugheit ausbilden müssen, die uns beim Finden der rechten Mitte hilft. Wie aber werden wir nun auf diese Weise klug?
Zuallererst, sagt Aristoteles, sind wir immer schon von Natur aus in der Lage, Tugenden auszubilden, auch wenn sie uns nicht angeboren sind – kleine Kinder und junge Menschen haben sie noch nicht. An tugendhaftes Verhalten müssen wir in einem ersten Schritt durch Erziehung erst gewöhnt werden. In einem zweiten Schritt lernen wir dann, das eingewöhnte Verhalten bewusst und überlegt auszuführen. Die Praxis des guten Handelns können und müssen wir im Laufe unseres Lebens also stetig ausbauen und verbessern, um aus Überlegung und mit voller Überzeugung das Handeln gemäß der Tugend zu wählen. Übung macht hierbei die Meisterin: Freigebig werden wir nämlich, indem wir immer wieder freigebig handeln, bis wir dies verlässlich und mit Freude tun. Die Tugenden werden auf diese Weise zu einem festen Bestandteil unserer Persönlichkeit, einer Haltung, und eine tugendhafte Person zeichnet sich entsprechend dadurch aus, dass sie zu ihren Affekten und Leidenschaften ein vernünftiges Verhältnis gefunden hat.
Eine große Hilfe können uns hierbei Vorbilder sein, denn von diesen Menschen glauben wir, dass sie bereits einen tugendhaften Charakter ausgebildet haben. Bleibt nun zuletzt die Frage: Wie erkennen wir tugendhafte und somit kluge Personen, die uns als Vorbild dienen können? Müssen wir dafür nicht selbst schon wissen, was tugendhaftes Handeln ausmacht? Aristoteles ist dafür kritisiert worden, dass er uns hier kein externes Kriterium mehr an die Hand gibt, das es uns erlaubt, tugendhaftes Handeln von außen zu erkennen und bewerten. Vielleicht können wir mit ihm aber sagen, dass es uns doch möglich ist, durch längere Beobachtung von Menschen und ihren Handlungen zu lernen. Dabei können wir uns immer auch fragen, ob diese Menschen über einen längeren Zeitraum ein glückliches Leben führen. Und wir können prüfen und ausprobieren, welche Handlungen, die für sie tugendhaft sind, auch für uns tugendhaft sein könnten.
Und hier kommt doch noch einmal die Lust ins Spiel – denn obwohl Aristoteles Lust, im Sinne einer individuellen kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung, als höchstes Ziel menschlichen Handelns ablehnt, so glaubt er dennoch, dass eine Person, die reflektiert mit ihren Begierden und Leidenschaften umgeht, eine besondere Form der Lust erfährt. Diese Form der durch vernünftige Überlegung vermittelte Lust bzw. Freude ist bleibend, auch über die Widrigkeiten und Widerstände des Alltags und des Lebens hinweg. Wenn darüber hinaus in einem Leben auch äußere Güter, wie z. B. ein gewisses Maß an Wohlstand und Einfluss, gegeben sind, dann bringt einen wahrhaft tugendhaften und somit glücklichen Menschen so rasch nichts aus der Fassung. Und an solchen Menschen, so Aristoteles, können wir uns orientieren.
Es kommt auf die Situation an
Inwiefern, so möchte ich nun abschließend fragen, ist die eudämonistische Position bei der Bewertung des Genome Editing am Menschen hilfreich? Zum einen kann man mitnehmen, dass es bei der Bewertung der Technologie immer darauf ankommt, die Situation, den Kontext und die beteiligten Personen genau zu erfassen und deren und die eigenen Umstände und Ziele mit in die Bewertung einzubeziehen. Laut Aristoteles sind wir soziale Wesen und unser je individuelles Glück ist eng durch das Leben in einer bestimmten Gemeinschaft geprägt. Zum anderen kann uns Aristoteles daran erinnern, immer wieder zu hinterfragen, was eigentlich ein glückliches Leben in der heutigen Zeit ausmacht. Hier lediglich eingewöhnte Verhaltensmuster zu übernehmen, wäre unzureichend. Dabei stellen sich jedoch mindestens zwei Herausforderungen: Heutige, moderne Gesellschaften sind durch einen starken Individualismus geprägt – was ein gutes und glückliches Leben ausmacht, kann ganz unterschiedlich von den einzelnen Individuen eingeschätzt werden. Zwar ging auch Aristoteles davon aus, dass es nicht die eine Anleitung zum glücklichen Leben gibt, aber in unserer heutigen Gesellschaft können die Individuen doch freier als noch in der Antike über ihre Lebensweise bestimmen. Eine Vielfalt an Lebensformen ist uns heute ein hohes Gut. Die Frage, was ein gutes Leben ausmacht und die Frage, was moralisch richtig ist, liegen also heute nicht mehr so nah bei einander. Zwar ist es einerseits sinnvoll, über Handlungen nachzudenken, die möglicherweise alle Menschen glücklich machen. Andererseits kommen wir aber bei der Beantwortung der Frage nach dem moralisch Richtigen im Falle sich widerstreitender Vorstellungen vom glücklichen Leben mit einer eudämonistischen Ethik an Grenzen.
Wie sollen wir mit neuen Technologien umgehen?
Eine zweite Herausforderung ergibt sich durch die Neuartigkeit des Phänomens des Genome Editing. Gemessen an der Entwicklungsgeschichte menschlicher Kulturen sind wir noch nicht sehr lange in der Lage, das Erbgut anderer Lebewesen zu verändern, geschweige das von Menschen. Woran können wir uns orientieren bei der Bewertung von Technologien, die völlig neue Situationen schaffen? Was würde eine kluge Person tun? Diese Fragen zu beantworten ist gar nicht so leicht, wenn die Herausforderung so neu ist. Eine mögliche Antwort wäre es zu sagen, dass die Einführung von Genome Editing nicht in allen Aspekten neu ist: Fragen des guten und richtigen Lebens sind sehr alt und sie bleiben auch heute relevant. Auch die ethische Bewertung von neuen Technologien gibt es schon seit es diese Technologien gibt. Wir fangen also bei der Bewertung des Genome Editing nicht bei null an – und dieser Gedanke, dass wir uns immer schon in bestimmten Handlungsvollzügen befinden, die wir kritisch reflektieren und verbessern können, ist einer, der in der eudämonistischen Ethik von Aristoteles ganz wichtig ist.
Textquelle: Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
[1] Für jüngere und zeitgenössische Ansätze in der Philosophie, die sich auf die Ethik des Aristoteles beziehen, siehe beispielsweise die Arbeiten von Philippa Foot, Martha Nussbaum oder Alasdair MacIntyre.