Das Prinzip des Nutzens – Utilitarismus

Vorgestellt von Annett Wienmeister

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Neben dem Hedonismus und dem Eudämonismus ist der Utilitarismus eine weitere teleologische Position. Sie wurde Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts erstmals systematisch entwickelt und vereint eine Vielzahl von Ansätzen, die jedoch alle einen einheitlichen Theoriekern aufweisen.[1]

Es kommt auf die Folgen an

Für den Utilitarismus erfolgt die moralische Bewertung einer menschlichen Handlung ausschließlich aufgrund der erwartbaren Folgen der Handlung. Aus diesem Grund wird der Utilitarismus auch als eine konsequentialistische Ethik bezeichnet. Der moralische Wert der Folgen einer Handlung ergibt sich dabei aus deren Nutzen. Vom Begriff des Nutzens hat diese Position auch ihren Namen erhalten: Der lateinische Ausdruck „utilitas“ bedeutet ins Deutsche übersetzt nämlich „Brauchbarkeit“, „Vorteil“ und eben auch „Nutzen“.

Wie bestimmt sich nun ganz konkret der Nutzen einer bestimmten Handlung? Für Vertreter_innen des Utilitarismus ist hier in Anlehnung an den Hedonismus die Beförderung von Lust und Freude (englisch „pleasure“) und die Vermeidung von Leid und Schmerz (englisch „pain“) [2] ausschlaggebend. Jeremy Bentham, der als einer der Begründer_innen des klassischen Utilitarismus gilt, schreibt dazu:

„Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt. Es ist an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden.“ (Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung)

Auch für John Stuart Mill, einem weiteren Begründer des Utilitarismus, ist das Lustprinzip grundlegend. Anders als für Bentham sind bei ihm jedoch nicht alle Lusterfahrungen gleich viel wert: Eine geistige Freude an Wissenszuwachs ist ihm zufolge einer leiblich-sinnlichen Freude vorzuziehen, selbst wenn die höheren geistigen Freuden sich nur selten und unter Mühen einstellen. Mill ist zwar der Auffassung, dass sowohl Menschen als auch Tiere leibliche Freuden erleben, aber nur Menschen können aufgrund ihrer höheren geistigen Fähigkeiten auch Lusterfahrungen im Sinne des Glücks haben (englisch: „happiness“). Von ihm bekannt geworden ist folgendes Zitat:

„Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedengestelltes Schwein“ (Utilitarismus)

Die Berechnung des größten Glücks

Der Utilitarismus verbindet nun das Prinzip des Nutzens mit einer Maximierungsformel: Demnach ist diejenige Handlung moralisch geboten, die im Vergleich zu anderen Handlungsalternativen absehbar das Wohlergehen aller von der Handlung Betroffenen maximiert. Dabei gehen auch Nebenfolgen und Nebenwirkungen in diese Analyse mit ein, ebenso solche, die in fernerer Zukunft liegen und die möglicherweise eine Vielzahl an Personen und andere empfindungsfähige Lebewesen wie die nichtmenschlichen Tiere betreffen könnten. Der Nutzen einer bestimmten Handlung bestimmt sich somit anhand des kurz- und langfristigen Ausmaßes der hervorgebrachten Freude bzw. des Glücks unter Verrechnung der durch diese Handlung ebenso hervorgebrachten Leiderfahrungen der Betroffenen.

Das größte Maß an Glück lässt sich Jeremy Bentham zufolge mit einem Berechnungsverfahren ermitteln – dem sogenannten hedonistischen Kalkül. Es handelt sich dabei um eine eher allgemeine Berechnungsanleitung, die wichtige Kriterien für die Bestimmung des größten Glücks anführt: Demnach müssen sowohl die Intensität, die Dauer, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens und die Nähe oder Ferne einer Freude oder eines Leids Berücksichtigung finden. Zudem gehen auch die Folgenträchtigkeit und die Reinheit einer Freude und eines Leids in das Kalkül ein. Mit Folgenträchtigkeit meint Bentham den Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der auf eine bewirkte Empfindung weitere Empfindungen derselben Art folgen – also auf Freude noch mehr Freude und auf Leid noch mehr Leid. Und mit der Reinheit bezieht sich Bentham auf die Möglichkeit, dass aus einer bewirkten Empfindung auch entgegengesetzte Empfindungen folgen könnten – auf Freude also auch Leid und auf Leid Freude. Schließlich kommt noch das Ausmaß oder die Verbreitung als siebtes Kriterium hinzu, womit die Anzahl der durch Freude oder Leid betroffenen Personen gemeint ist.

John Stuart Mill (1806 – 1873)

Eine Berechnung des moralischen Werts einer Handlung verspricht auf den ersten Blick ein objektives Verfahren zu sein, das man zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gleichermaßen nutzen kann. Allerdings gibt es doch auch hierbei zahlreiche Herausforderungen. Eine erste Schwierigkeit besteht darin, dass man die subjektiven Lustempfindungen verschiedener Menschen kaum eins zu eins miteinander vergleichen und verrechnen kann. Eine mögliche Antwort auf diese Schwierigkeit hat der sogenannte Präferenzutilitarismus entwickelt – hierbei spielen weniger subjektive Zustände des Wohlbefindens oder des Leidens eine Rolle, sondern die Erfüllung von Wünschen und Präferenzen. Für die Präferenzutilitaristin ist ein Vergleich erfüllbarer bzw. unerfüllbarer Wünsche verschiedener Personen leichter anzustellen als ein Vergleich verschiedener subjektiver Empfindungsqualitäten. Doch auch sie muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob wir wirklich immer ganz genau wissen können, worin unsere eigenen und die Wünsche anderer Personen bestehen und ob diese Wünsche gut für uns sind. Hier brauchen wir ein zusätzliches Wertkriterium für die Beurteilung unserer Wünsche, das wir im Rahmen einer rein utilitaristischen Position nicht erhalten können.

Eine weitere Schwierigkeit des hedonistischen Kalküls hat schon bereits dessen Begründer angemerkt: Demnach könne nicht von uns erwartet werden, dass wir das Kalkül bei jeder einzelnen Handlung tatsächlich in voller Gänze durchführen. Der sogenannte Regelutilitarismus antwortet auf dieses Problem der Überforderung des Einzelnen oder einer Gruppe bei komplexen Entscheidungssituationen, indem er nicht eine einzelne Handlung, sondern eine allgemeinere Handlungsregel utilitaristisch auf ihre Folgen hin beurteilt. Dies hat den Vorteil, dass eine für die Gesellschaft auf lange Sicht vorteilhafte Regel – so z. B. das Lügenverbot – auch dann nicht aufgegeben werden kann, wenn im Einzelfall eine Lüge einmal ein Übermaß an positiven Folgen hätte.

Kann Verrechnung von Glück (in jedem Fall) moralisch sein? 

Weitere Herausforderungen, deren sich Vertreter_innen des Utilitarismus stellen müssen, betreffen z. B. die Frage, ob es moralisch sein kann, das Glück von Menschen auch in Situationen gegeneinander aufzurechnen, in denen grundlegende Interessen und Rechte von Individuen verletzt würden, wie z. B. das Recht auf Leben. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach einer gerechten Verteilung der Summe des Wohlbefindens unter einer Gruppe von Individuen. Dürfen einige wenige Menschen von großen Vorteilen profitieren, die in der Summe die Nachteile aufwiegen, die anderen Menschen dadurch entstehen? Der Philosoph John Rawls hat sich im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie kritisch mit dieser Frage auseinandergesetzt. Seinen Ansatz kannst du auf der Seite zum Kontraktualismus kennenlernen. Ein weiterer Kritikpunkt am Utilitarismus greift die Frage auf, ob es Arten und Weisen des Lustgewinns gibt, die per se unmoralisch sind und deshalb bei der utilitaristischen Bewertung von Handlungsalternativen gar nicht erst ins Gewicht fallen sollten.

Soll die Straßenbahn nach rechts umgelenkt werden, um einen anstelle von fünf Menschen zu überfahren? Das von der Philosophin Philippa Foot diskutierte Gedankenexperiment des „Trolley-Problems“ stellt u. a. die Frage nach den Grenzen einer utilitaristischen Ethik (Trolley Problem von McGeddon, CC BY SA 4.0)

Video zum Trolley-Problem von Filosofix: https://www.youtube.com/watch?v=MhOJp1DcabM

Was lässt sich trotz dieser in Wissenschaft und Forschung viel diskutierten Herausforderungen vom Utilitarismus für die Bewertung des Genome Editing mitnehmen? Ähnlich wie beim Hedonismus ist beim Utilitarismus der Gedanke wichtig, dass Menschen Wesen sind, für die Lust und Wohlbefinden und das Vermeiden von Leid wichtige Aspekte ihres Lebens sind. Zudem lenkt der Utilitarismus unser Augenmerk auf die Tatsache, dass unsere Entscheidungen für oder gegen eine Handlung zahlreiche Konsequenzen haben werden, die es, auch auf lange Sicht, zu bedenken gilt. Darüber hinaus weist er uns darauf hin, dass durch moralisch relevante Entscheidungen immer eine größere Gruppe von Menschen betroffen sein wird, als der kleine Kern an Bezugspersonen, der für unser alltägliches Leben relevant ist. Gerade bei der Frage nach der ethischen Vertretbarkeit von Eingriffen mit Genome Editing an der menschlichen Keimbahn, durch die das Erbgut nicht nur des behandelten Individuums, sondern auch dessen Nachkommen verändert würde, ist dieser Gedanke sehr wichtig.


Textquellen: Jeremy Bentham, Eine Einführung in die Pinzipien der Moral und Gesetzgebung: in: O. Höffe (Hrsg), Einführung in die utilitaristische Ethik, Francke Verlag, Tübingen 1992; John Stuart Mill, Utilitarismus, in: ebd.

[1] Ein zeitgenössischer Vertreter des Utilitarismus ist Peter Singer. Er setzt sich insbesondere für die Berücksichtigung der Interessen von Tieren ein und beruft sich dabei auf Jeremy Bentham, der früh auf die Fähigkeit von Tieren zu Leiden als moralisches Kriterium hingewiesen hat.

[2] Der Begriff „pleasure“ wird in deutschen Übersetzungen des englischen Originaltexts nicht immer einheitlich als „Lust“, „Freude“ oder „Vergnügen“ übersetzt. Entsprechend vielfältig wird auch der Begriff „pain“ als „Unlust“, „Leid“ oder „Schmerz“ übersetzt. Auf mögliche Unterschiede in der Begriffsbedeutung wird hier nicht eingegangen.