Die Lernplattform steht im Kontext einer Didaktik Angewandter Ethik, deren programmatische Grundzüge ich hier kurz skizzieren möchte (für eine ausführliche Begründung siehe Dietrich: Didaktik Angewandter Ethik, in Vorbereitung).
Angewandte Ethik
Die Angewandte Ethik beschäftigt sich ergebnisoffen mit ethischen Fragestellungen, die real oder zumindest realistisch, konkret zuschreibbar und handlungsrelevant sind und zwar mit dem Ziel, die handlungsorientierende Urteilsbildung kritisch-reflexiv zu unterstützen.
Ein integratives Modell Angewandter Ethik
Die Angewandte Ethik muss Vermittlungsprozesse notwendigerweise in ihre Theoriebildung integrieren. Vermittlungsprozesse in Schule, Hochschule, Erwachsenenbildung und gesellschaftlichem Diskurs sind für die Angewandte Ethik nämlich nicht nur nachträglich in dem Sinne, dass das als tragfähig oder wichtig Begründete durch darauffolgende Vermittlungsprozesse verständlich zu machen und zur Diskussion zu stellen ist. Es ist auch ganz umgekehrt: Die Angewandte Ethik basiert immer schon auf Vermittlungsprozessen, wird durch diese geprägt, führt sie weiter fort und sollte sie auch als Ursachen, Folgen und Lösungen von ethischen Problemen ernst nehmen. Wenn z. B. jemand ein weltweit als fragwürdig angesehenes Experiment an Menschen durchführt, dann hat – neben vielen anderen Personen, Institutionen und Mechanismen – auch das Bildungssystem dies zumindest zugelassen, nicht verhindert oder aber vielleicht gerade gefördert. Es kann in gleicher Weise dazu beitragen, in Zukunft eine – und das ist eigentlich die Pointe – rechtzeitige, explizite und mit anderen geteilte ethische Reflexion in den Wissenschaften zu stärken. Denn eine ethische Reflexion findet vielleicht häufiger statt als man denkt, gerade auch, wenn man „dafür“ ist. Nur eben vielleicht nicht immer rechtzeitig und explizit und mit anderen geteilt.
Ethische Grundbildung als Recht
Wenn man die Möglichkeit, an gesellschaftlichen Diskursen zu Fragen Angewandte Ethik teilzuhaben, als bürgerschaftliches Recht voraussetzt und dementsprechend Fragen Angewandter Ethik in den allgemeinbildenden Auftrag eines (selektierenden) Bildungssystems einbezieht und wenn man darüber hinaus konzediert, dass in einer wissenschaftsorientierten Gesellschaft die gesellschaftliche Teilhabe ganz wesentlich durch wissenschaftliche Strukturen mit bestimmt wird – was man kritisieren kann – dann gilt dies auch für die Ethik als Wissenschaft. Das heißt, dass jede_r ein Recht darauf hat, im Rahmen des allgemeinbildenden Auftrags einen Zugang zu ethischer Grundbildung zu erhalten. Diese Forderung ist nicht so zu verstehen, als sei das Recht auf Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen selbst an irgendwelche Vorbedingungen gebunden. Für seine Umsetzung sind nur seitens des Bildungssystems die geeigneten Voraussetzungen zu schaffen und zu stärken – was zum Beispiel bedeutet, Ethik als Pflichtfach für alle einzuführen und in Bildungsprogrammen nicht implizit die gymnasiale Oberstufe, sondern die Sekundarstufe 1 als vorrangigen Adressaten vor Augen zu haben.
Ein formales Profil (wissenschafts-) ethischer Grundbildung
Für die Umsetzung einer ethischen Grundbildung als Recht bedarf es eines formalen Profils ethischer Grundbildung in dem Sinne, dass elementare Kompetenzen und Kenntnisse für die ethische Urteilsbildung ausgewiesen bzw. diskutiert werden (siehe hierzu die Videoclips zu der Frage „Was müssen Menschen können, um sich ein ethisches Urteil bilden zu können?“). Ein solches Profil ist in dem Sinne formal, dass es keine bestimmten moralischen Positionen vorgibt. Es wird aber – wie auch in anderen Fächern – nicht vollständig neutral sein können und einen schwachen Kanon implizieren, weil natürlich der Ausweis als „elementar“ auf bestimmten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen sowie didaktischen und damit letztlich ethischen Voraussetzungen beruht.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich mit guten Gründen der Praktische Syllogismus als Grundstruktur eines Kompetenzmodells heranziehen, wie es auch der sog. Fallanalyse und der Konzeption dieser Lernplattform zugrunde liegt und das mit einem schwachen materialen Kanon an grundlegenden ethischen Begriffen und Unterscheidungen verbunden werden kann. Ethische Theoriebausteine wie z. B. die Idee des Handelns oder die Unterscheidung von Fragen des Gelingens des Lebens und Fragen der Gerechtigkeit lassen sich als Heuristiken zur theoriegeleiteten Erschließung von ethischen Fragen einsetzen. Der „Dreh- und Angelpunkt“ eines formalen Profils ethischer Grundbildung ist dann die Fähigkeit, eine ethische Fragestellung überhaupt als solche zu erkennen und nicht nur, aber auch theoriegeleitet zu erschließen.
Da die Angewandte Ethik häufig spezifisch wissenschaftsethische Fragen wie z. B. in Bezug auf die Entwicklung einer neuen Technologie bearbeitet, lässt sich auch diesbezüglich fragen, ob es grundlegende theoretische Unterscheidungen oder Zugänge gibt, die in ein Profil wissenschaftsethischer Grundbildung Eingang finden sollten. Hier erscheint es elementar, den Begriff der Wissenschaft und dann auch der Ethik selbst sowie ihr Verhältnis zu erschließen und Reduktionismen zu verhindern.
Ressourcenorientierte Ethikdidaktik und „didaktische Exploration“
Vor dem Hintergrund der Idee einer ethischen Grundbildung als Recht stellt sich die forschungsprogrammatische Frage, wie in der Ethikdidaktik an den bereits vorhandenen Ressourcen eines Menschen, sein Leben selbst zu gestalten, angeschlossen werden kann. Üblicherweise wird in der Didaktik von einem wissenschaftlichen Forschungsstand her gedacht, der dann einer sog. didaktischen Reduktion unterworfen wird – weswegen dann derjenige, der lernt, immer irgendwie defizitär an einem noch nicht erreichten Ideal gemessen wird. Hier ist das Gegenmodell einer „didaktischen Exploration“ zu entwickeln, das systematisch von der Frage ausgeht, was wir denn schon können, um uns überhaupt eine ethische Frage stellen zu können.
Fachwissenschaftliche Prinzipien und methodische Fragen
Die oben skizzierten Grundzüge einer Didaktik Angewandter Ethik lassen sich zu fachwissenschaftlichen Prinzipien umformulieren, welche bei der Planung von Vermittlungsprozessen berücksichtigt werden sollten: „Wenn Du Fragen Angewandter Ethik vermitteln willst, dann achte darauf, dass die Kennzeichen der Angewandten Ethik auch umgesetzt werden und Du nicht womöglich mit Gedankenexperimenten oder fiktiven Beispielen den realen Handlungsspielraum übergehst.“ oder „Wenn Du wissenschaftsethische Fragen behandelst, dann achte darauf, dass Du nicht womöglich ein reduktionistisches Wissenschaftsverständnis förderst, indem z. B. Wissenschaft nicht auch als offener Forschungsprozess deutlich wird.“ (vgl. hierzu das „Kritische Poster“). Eine solche Methodik der Angewandten Ethik kann natürlich auf viele Ansätze in verschiedenen Fachdidaktiken und auf die reichhaltigen Erfahrungen aus einer Vielzahl von Vermittlungsprozessen zurückgreifen, wäre aber erst noch systematisch und fächerübergreifend auszuarbeiten und dann auch empirisch zu evaluieren.