Henning Franzen macht’s vor

Ein Beitrag von Henning Franzen


Hier findest du den Text zum Video:

Vom Kommentar zum Argument

Hallo und herzlich willkommen,

gesellschaftliche Debatten z. B. zu CRISPR/Cas finden nicht nur in Fachartikeln, sondern auch in Talkshows, im Internet, an Stammtischen statt. Nicht immer wird dort sachlich argumentiert. Manche  Kommentare wie z. B. „Schöne neue Welt lässt grüßen!“ liefern gar keinen argumentativen Beitrag. Sie äußern ein eher diffuses Unbehagen. In anderen aber sind Argumente versteckt, die auf den ersten Blick vielleicht nicht klar zu erkennen sind. An einem Beispiel möchte ich das zeigen.

Folgendes könnte im Kommentarbereich unter einem Artikel in der Online-Ausgabe einer großen Wochenzeitschrift stehen:

„Bei einer genetischen Keimbahnveränderung schreien diese selbsternannten Superethiker „Skandal!“, aber bei der Reparatur von Defekten am Herzen, an anderen Organen oder Gelenken durch chirurgische Eingriffe sehen sie – wie wir alle – kein Problem!“

Dieser Kommentar ist etwas polemisch. Um ihn einer differenzierten Bewertung zu unterziehen, müssen wir zunächst versuchen, das ihm zugrundeliegende Argument zu rekonstruieren. Für welche These wird eigentlich argumentiert (Konklusion)? Von welchen Annahmen wird ausgegangen (Prämissen)?

Je weniger ein Kommentar seine Prämissen und seine Konklusion ausdrücklich benennt, desto mehr Interpretationsleistung besteht in der Rekonstruktion. Wir können ja gar nicht anders als der Autorin / dem Autor bestimmte Thesen / Annahmen zu unterstellen.  Dabei sollten wir wohlwollend vorgehen: Bevor ein Argument kritisiert wird, sollte es in einer möglichst starken Form rekonstruiert werden. In einer philosophischen Diskussion, in der es nicht um bloßes Recht behalten geht, sollte dies unser leitendes Prinzip sein.

Prämisse 1:


Zwischen der genetischen Veränderung der menschlichen Keimbahn mit CRISPR/Cas und der operativen Veränderung von Organen oder Gelenken  zum Zwecke des Behebens von Defekten gibt es keinen moralisch relevanten Unterschied.

Versuchen wir es also mit diesem Fragment einer Argumentation. Zentraler Gedanke scheint zu sein, dass es zwischen der genetischen Veränderung der menschlichen Keimbahn und der operativen Veränderung von Gelenken oder Organen (z. B. durch künstliche Herzklappen) keinen moralisch relevanten Unterschied zu geben scheint. Diese „Superethiker“ verhalten sich also widersprüchlich, wenn sie das eine ablehnen und das andere gutheißen. Jedenfalls dann, wenn es um das Beheben von „Defekten“ geht. Versuchen wir, daraus eine Prämisse des Arguments zu formulieren.

Ausdrücklich wird das im Kommentar so nicht gesagt, wir müssen interpretieren, aber es scheint doch, dass dies zum Ausdruck gebracht werden soll. Das „Skandal!“-schreien bei genetischer Keimbahnveränderung einerseits wird ja angesichts der offenbaren Akzeptanz chirurgischer Eingriffe andererseits kritisiert.

Um nun ein vollständiges Argument zu erhalten, muss vermutet werden, welche These vertreten werden soll. Da die Gentechnik-Kritiker abwertend „diese selbsternannten Superethiker“ genannt werden, ist zu vermuten, dass hier für eine moralische Unbedenklichkeit von CRISPR/Cas gesprochen werden soll – zumindest wenn es um das Beheben von „Defekten“ geht:

Konklusion:

Gentechnische Veränderungen der menschlichen Keimbahn zum Zwecke des Behebens von Defekten mit CRISPR/Cas sind unbedenklich

Um nun ein vollständiges Argument zu erhalten, muss vermutet werden, welche These vertreten werden soll. Da die Gentechnik-Kritiker abwertend „diese selbsternannten Superethiker“ genannt werden, ist zu vermuten, dass hier für eine moralische Unbedenklichkeit von CRISPR/Cas gesprochen werden soll – zumindest wenn es um das Beheben von „Defekten“ geht

Noch immer ist das Argument nicht vollständig. Damit sich die Konklusion aus den Prämissen ergibt, ist eine zweite Prämisse erforderlich.

Prämisse 2:

Operative Veränderungen von Organen, Gelenken u. a. zum Zwecke des Behebens von Defekten sind moralisch unbedenklich.

Implizit wird das im Kommentar gesagt, da ja „wir alle“ damit „kein Problem“ haben. Damit ist das Argument vollständig. Deutlich wird, dass sich die Konklusion aus den Prämissen ergibt. Nicht ganz klar ist, ob die Rekonstruktion die mit dem Kommentar verfolgte Intention angemessen spiegelt. Wir haben uns aber bemüht, den Gedanken der Kommentatorin / des Kommentators so wiederzugeben, wie er gedacht war.

Was ist nun damit gewonnen? Klarheit! Zumindest lässt sich das Argument nun präziser kritisieren (und auch präziser gegen Kritik verteidigen).

An Prämisse 2 werden vermutlich nur wenige ernsthaft zweifeln. Prämisse 1 hingegen ist angreifbar. So könnte ein moralisch relevanter Unterschied darin bestehen, dass die genannten operativen Verfahren gegenwärtig sehr gut beherrscht werden. Das Risiko ist kalkulierbar. Ganz anders bei CRISPR/Cas, für dessen Einsatz zur Manipulation der menschlichen Keimbahn keine Langzeitstudien existieren. Dieser Einwand könnte allerdings sein Gewicht verlieren, wenn CRISPR/Cas eines Tages besser beherrscht wird. (Auch die erste Herztransplantation war schließlich nicht nachhaltig erfolgreich.)

Im Unterschied zu einem chirurgischen Eingriff ist ein Eingriff in die Keimbahn nicht gut lokal etwa auf ein Organ oder ein Gelenk einzuschränken. Die genetische Veränderung würde sich sogar auf eventuelle Nachkommen übertragen. Auch darin könnte man einen moralisch relevanten Unterschied sehen. (Man könnte das Argument jedoch auch verteidigen, indem man dies zumindest nicht negativ bewertet, weil ja der „Segen“ des Keimbahneingriffs sich positiv auch auf potenzielle Nachkommen auswirken würde.)

Eine Kritik ganz anderer Art könnte an der Frage ansetzen, was eigentlich mit dem „Beheben von Defekten“ gemeint ist und wo die Grenze zur Optimierung zu ziehen ist. Kann man so eine Grenze überhaupt ziehen?

Wir sehen, die Diskussion kann weitergehen. Aber mit einem Argument, das Prämissen und Konklusion deutlich macht, kann sie viel präziser geführt werden. Im Ringen um eine akzeptable Regelung zum Einsatz von CRISPR/Cas ist das extrem wichtig.