Andere Menschen verstehen

Ein Beitrag von Maria Hawlitzki

„Ethische Probleme“ – Das sind Aufgaben oder Herausforderungen, die auf eine andere Weise eine gedankliche Auseinandersetzung erfordern, als beispielsweise Sudoko-Knobelaufgaben oder Aufbauanleitungen für dänische Holzmöbel. Sie erfordern, dass jeder sich selbst positioniert und gehen gleichzeitig über die eigene Perspektive hinaus. Wie kann das gemeint sein?

Ein ethisches Urteil beansprucht, im Allgemeinen gültig zu sein, nicht nur subjektiv. „Himbeereis ist lecker“ bedeutet vor allem „Himbeereis schmeckt mir lecker“. Es handelt sich also nicht um ein objektives Urteil über die Eigenschaft von Himbeereis. Schließlich würde ich nicht anfangen, an meiner Vorliebe für Himbeereis zu zweifeln, unabhängig davon, wie viele Menschen für sich feststellen, Himbeereis nicht zu mögen. Die unterschiedlichen Bewertungen von Himbeereis „tun sich gegenseitig nichts“. Geschmacksurteile können nebeneinander existieren. „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“. In ethischen Fragen sieht die Sache anders aus. Über ethische Urteile muss man streiten, weil sie eine Sache der Perspektive ist. Nämlich der systematischen, „professionellen“ Perspektivübernahme. 

Genauer: Es kann mir nicht gleichgültig sein, wenn ich zu der Einschätzung komme, dass unter den gegebenen Umständen y die Handlung z geboten wäre und jemand anderes zu einem anderen Urteil kommt. Wir beide werden in dieser Konstellation davon ausgehen, dass mindestens einer von uns beiden falsch liegt. In einigen Fällen lässt sich durch eine aufgeschlossene, interessierte und an der Sache (der Wahrheit näherzukommen) orientierte Unterhaltung dazu führen, dass einer von uns den anderen mit seinen Begründungen überzeugen kann und der Widerspruch sich auflöst. In vielen Fällen könnte es sein, dass wir trotz des Austauschs von Begründungen mit unterschiedlichen Überzeugungen die Unterhaltung beenden. Aber diese Tatsache ist mit Himbeereis nicht zu vergleichen. Denn dieser Zustand „tut sich durchaus etwas“. Auch wenn nicht geklärt werden konnte, wer recht hat – wir gehen beide immer noch davon aus, dass eins unserer beiden Urteile (x sollte unter den gegebenen Umständen y z tun) auf jede Person x unter den Umständen y zutrifft. Unser Urteil gilt allgemein, es ist allgemeingültig. Nur dann kann man von einem ethischen Urteil sprechen.

Hat man den „Allgemeingültigkeitsanspruch“ erst einmal erkannt, dann gehört zu einer intensiven Auseinandersetzung dazu, den Ausdruck „jede Person x“ genauer unter die Lupe zu nehmen. 

Was ist also mit der Aufforderung gemeint, verschiedene Perspektiven einzunehmen?

Gemeint ist, über Folgendes nachzudenken: Wer gehört zu „jede Person x“? Aus welchen Gründen kommen einige Personen vielleicht zu anderen Urteilen? Sind die Gründe, aus denen andere Personen zu anderen Urteilen kommen, unbedingt zu berücksichtigen? Warum ja oder warum gerade nicht?

Oft liest man, man möge sich in andere Personen (mit anderen Erfahrungen, Wertvorstellungen, Ressourcen, Interessen…) „hineinversetzen“. Das kann missverstanden werden. Es geht nicht darum, individuelle, biografisch und gesellschaftlich bedingte Dispositionen nachzufühlen. Ein „Hineinversetzen“ darf nicht dazu führen, die jeweiligen Überzeugungen der Person xn unreflektiert zu übernehmen (Diese Gefahr besteht vor allem auch bei der Berücksichtigung der eigenen Perspektive). Mit „Perspektiven einnehmen“ ist in diesem Zusammenhang auch nicht die deskriptive Darstellung und psychologische Interpretation von individuellen Entscheidungen gemeint.

Die Perspektive eines (beliebigen) anderen einzunehmen, ermöglicht es mir, zu verstehen, wie es dazu kommen kann, dass jemand zu seiner Beurteilung gekommen ist (notwendig).

Die kritische Prüfung der Urteile anderer (und vor allem auch der eigenen) Überzeugungen bleibt als Aufgabe dabei immer bestehen (hinreichend). Nach genauer Prüfung sollten die aus der Perspektiveinnahme gewonnenen Erkenntnisse in die eigenen Begründungen integriert werden.

Sie finden im Folgenden eine Vielzahl von fiktiven Briefen. Sie sind im Schulunterricht (Grundkurs Philosophie) entstanden. Schüler/innen eines Kurses haben sich bemüht, in dieser Form ihre Überlegungen auf das Thema Genom Editing aus der Perspektive unterschiedlicher beteiligter Akteur/innen darzulegen. Sie sind herzlich eingeladen, einzelne Briefe zu lesen, eigene fiktive Briefe zu ergänzen, auf einen Brief aus der jeweilig angesprochenen Perspektive zu antworten …

Schülerbriefe