Vielleicht hast Du schon ein wenig Einblick in die Ethik gewonnen und gemerkt, dass es dort viele verschiedene Arten und Weisen gibt, Normen und Werte zu begründen, und dass manchmal heftig darüber gestritten wird, welche Art und Weise die beste ist. Auch kommen die Ethiker_innen häufig zu unterschiedlichen Beurteilungen, ob z. B. eine neue Technologie weiter entwickelt werden soll oder nicht, so dass man von ihnen gar keine eindeutige Antwort bekommt, was man tun soll. Was machst Du dann? Wie kannst Du mit dieser Vielfalt in der Ethik umgehen? Auch dazu haben sich die Ethiker_innen Gedanken gemacht und ich möchte Dir einige „Strategien“ vorstellen, wie man sich die Vielfalt zunutze machen kann bzw. wie man vorgehen kann, wenn die ethische Lage unklar oder unentschieden ist.
Die erste Strategie wurde von Aristoteles entwickelt, der die Ansicht vertreten hat, dass es der Ethik gar nicht möglich sei, für jeden einzelnen Fall eine Antwort zu haben – sie sei doch nicht wie die Mathematik, in der man alles genau berechnen könne, sondern handele von den Dingen, die Menschen tun, und die seien nun mal nicht so berechenbar.
Das heißt für Aristoteles aber nicht, dass die Ethik sinnlos ist: Sie kann uns immerhin Ratschläge geben, sozusagen Faustregeln oder „points to consider“, wie in der Regel kluge Entscheidungen aussehen könnten – sie sollten zum Beispiel zu der Situation passen und eine gewisse Stimmigkeit mit dem haben, wie wir sonst leben. Und es ist ja auch viel wert, sich mit anderen, insbesondere mit Menschen, die viel Lebenserfahrung haben, zu beraten, was denn eine gute Lösung sein könnte. Letztlich beruht diese Lösung dann aber doch auf etwas, was ethische Urteilskraft genannt wird: Wie das Wort schon sagt, kommt da etwas Theoretisches, das Urteil, mit etwas ganz Praktischem, nämlich der Kraft, das als richtig Erkannte, auch zu tun, zusammen. Und wie Urteil und Kraft zusammenwirken können, muss man als Mensch erst lernen, so dass hier die Übung und Erfahrung eine wichtige Rolle spielen.
Die zweite Strategie beharrt auf der Idee, dass die Ethik auch für den einzelnen Fall eine eindeutige Lösung finden könne – und macht dann ganz viel Arbeit und man muss fleißig sein. Dann muss man nämlich tatsächlich alle Arten und Weisen, wie man Normen und Werte begründen kann, vergleichen und man muss begründen, warum man die eine Art und Weise besser findet als die andere – und man muss auch wieder begründen, worin denn eine gute Begründung besteht.
Dazu muss man sich in der Ethik gut auskennen und wissen, welche Argumente für oder gegen einen ethischen Ansatz es schon gab und wie man den Ansatz, den man letztendlich gewählt hat, auf ein konkretes Problem anwendet. Das ist schon ziemlich viel. Aber eigentlich ist es wie z. B. in den Naturwissenschaften: Da muss man ja auch erst lernen, auf welchen Grundlagen der aktuelle Forschungsstand beruht, und sich bei dem wirklich gut auskennen, bevor man selber eine gute Forscherin bzw. ein guter Forscher werden kann. Das heißt natürlich nicht, dass nur die Ethiker_innen gute Entscheidungen fällen können – das können alle Menschen – aber es heißt, dass sie gute Entscheidungen besser wissenschaftlich begründen können.
Wer die dritte Strategie vertritt, ist ein wenig vorsichtiger und fragt sich, ob es wohl wirklich möglich ist, letztlich eine einzige bzw. überlegene ethische Theorie zu entwickeln. Was macht man denn solange, bis man die gefunden hat? Und vielleicht ist es ja auch gut, dass es mehrere Arten und Weisen gibt, wie man Normen und Werte begründen kann?
In der Medizin zum Beispiel (mit der die Philosophie immer mal wieder verglichen worden ist) ist man doch ganz froh, wenn es verschiedene Therapien und Therapeut_innen für eine Krankheit gibt. Bei besonders hartnäckigen oder bedrohlichen Krankheiten holt man sich dann eine zweite oder dritte Meinung aus möglichst unterschiedlichen Disziplinen ein und fragt z. B. wen aus der Schulmedizin, aus der Psychosomatik und aus der Chinesischen Medizin, was man tun soll. Wenn die dann halbwegs zu demselben Ergebnis kommen oder zumindest einige Maßnahmen als sinnlos ausschließen, hat man eigentlich eine ganz gute Entscheidungsgrundlage. So kann man das in der Ethik auch machen – sich sozusagen verschiedene Gutachten aus unterschiedlichen Perspektiven einholen und die dann versuchen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen (das heißt dann Konvergenztheorie, von lat. convergere: zusammenlaufen).
Die vierte Strategie wurde auch von Aristoteles entwickelt (und ist dann von Rawls wieder eingesetzt und in der Angewandten Ethik durch Beauchamp und Childress verbreitet worden). Aristoteles scheint es ein großes Bedürfnis gewesen zu sein, sich immer wieder zu vergewissern, ob das, was er als Ethiker denkt noch mit dem zusammenpasst, was „die normalen Leute“ so denken – er wollte vermutlich nicht als abgehoben gelten.
In seinem Ethik-Buch, das er für jemanden geschrieben hat, der Nikomachos hieß (sein Sohn oder sein Vater), die Nikomachische Ethik, geht er deshalb immer zwischen dem, was so „die Leute“ sagen und dem, wie er die Dinge theoretisch sieht, hin und her und versucht, das in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen, das heißt kohärent zu machen (von lat. cohaerere: zusammenhängen). Man kann sich also zum einen fragen, was denn die eigene persönliche Sicht ist, und sich zum anderen mit den ethischen Theorien auseinandersetzen und dann so lange ein wenig an der eigenen Sicht oder an den ethischen Theorien verändern und herumbasteln, bis die zusammenpassen.
Die fünfte Strategie wird von vielen Menschen im Alltag angewendet und besteht darin, ein ethisches Problem zu vermeiden. Man versucht, eine Handlungsweise zu finden, die keine ethischen Probleme aufwirft oder diese möglichst klein hält.
Wenn z. B. der Eingriff in die menschliche Keimbahn durch das Genome Editing ganz fundamentale Überzeugungen von uns, was man mit Menschen machen darf oder nicht, in Frage stellt, dann könnte man ja zu dem Schluss kommen, dass „der ethische Preis“ für das Genome Editing zu hoch ist und dass es besser wäre, Krankheiten mit einer Methode zu heilen, die nicht so viele ethische Fragen aufwirft. Man würde dann sagen: Wenn wir schon so viel darüber nachdenken müssen, ob das wohl erlaubt ist oder nicht, dann spricht das doch irgendwie dagegen – kann man nicht irgendetwas machen, was uns nicht so viel Kopfzerbrechen bereitet? Oder im Vergleich: Wenn man schon ganz viel darüber nachdenken muss, ob man jemanden heiraten will oder nicht – dann stimmt doch da vermutlich etwas nicht und man sollte es vielleicht lieber bleiben lassen.
Philosoph_innen, die gerne lange über schwierige Dinge nachdenken und sich daher gerne Probleme machen, damit sie sie lösen können – sie ähneln daher ein wenig den Zirkusartist_innen, die sich total absurde Herausforderungen für ihren Körper ausdenken, nur, dass sie das mit dem Denken tun – also die Philosoph_innen können meistens nicht der Versuchung widerstehen, es genau austöfteln zu wollen, ob etwas erlaubt werden soll oder nicht, und deshalb mögen sie diese Strategie des Vermeidens meistens nicht. Auch die Lehrer_innen an der Schule möchten ihre Schüler_innen meistens zu einer klaren Antwort und Argumentation zwingen, damit sie lernen, wie man zu einem ethischen Urteil kommt, und sich ordentlich anstrengen müssen dabei. Auch sie finden diese Strategie meistens nicht so gut: Drückt man sich dann nicht vor dem Problem? Ist man dann nicht einfach zu faul? Ich persönlich finde es eigentlich ganz sympathisch, wenn jemand zu faul für ethische Probleme ist… Jedenfalls muss man immer mit bedenken, was man allein schon mit der Art und Weise, wie man Ethik betreibt, auf der Welt anstellt.