Perspektivenübernahme und ethische Urteilsbildung

Ein Beitrag von Annett Wienmeister

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Als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage finde ich das Konzept der Triangulation hilfreich. Es ist u.a. aus den Bereichen der Philosophie des Geistes und der Sprachphilosophie bekannt, wird aber auch in anderen Disziplinen verwendet, z. B. in der Entwicklungspsychologie. Mit dem Konzept der Triangulation versucht man in der Philosophie zu verstehen, wie es möglich ist, dass wir uns im Denken erkennend auf die objektive Welt beziehen und ich glaube auch in diesem Kontext ist es für das Verstehen ethischer Urteilsfindung hilfreich. Das Konzept der Triangulation besagt, dass die Bezugnahme eines Subjekts auf die objektive Welt nicht allein als eine zweistellige Relation zwischen Subjekt und Objekt aufgefasst werden kann. Vielmehr ist es so, dass die Bezugnahme auf eine objektive Welt voraussetzt, dass ein Subjekt versteht, dass sich auch mindestens ein weiteres Subjekt auf dieselbe Welt bezieht und hier ebenfalls einen Standpunkt einnimmt, der sich vom eigenen Standpunkt unterscheiden kann. Nur dadurch, dass ich meine Perspektive auf die Welt als eine unter mehreren Perspektiven auf die Welt verstehe, kann ich überhaupt auf die Welt als objektive Welt im Denken Bezug nehmen. In diesem Sinne sind der Bezug eines Subjekts auf die Welt und der Bezug auf andere Subjekte, die sich auf dieselbe Welt beziehen, wechselseitig voneinander abhängig.

Ich finde das Konzept der Triangulation deshalb hilfreich, weil es uns zwei Aspekte von ethischem Urteilen verdeutlicht, die ich als grundlegend erachte und die miteinander eng verwoben sind, nämlich zum einen die Fähigkeit der Selbstreflexion – ich verstehe mich als eine, die eine bestimmte Perspektive unter anderen auf die Welt hat –  und zum anderen die Fähigkeit der Perspektivenübernahme – ich verstehe, dass auch andere ihre Perspektive auf dieselbe Welt haben. Darüber hinaus wissen wir jeweils voneinander, dass wir uns auf diese Weise auf die Welt und aufeinander beziehen.    

Das Besondere bei ethischen Urteilen ist nun, dass sie nicht von unserer Perspektive auf die Welt handeln, wie sie ist, sondern von unserer Perspektive auf die Welt, wie sie sein soll. Und anders als bei Wünschen, wo es um subjektive Präferenzen geht oder bei Befehlen, wo zukünftige Zustände der Welt durch Machtstrukturen etabliert werden sollen, wollen wir uns und andere Personen bei einem ethischen Urteil vermittels rationaler Argumentationen und mit Referenz auf Bedürfnisse und Interessen, aber auch auf Werte und Prinzipien von der Richtigkeit des Urteils überzeugen. Wir nehmen also einen allgemeinen Standpunkt ein, der sowohl uns selbst als auch andere rational-normativ binden soll.

Was müssen wir also können, wenn wir uns ein ethisches Urteil über das Genome Editing am Menschen bilden möchten? Ich würde sagen auf einer ganz grundlegenden Ebene müssen wir fähig zur Selbstreflexion und zur Perspektivenübernahme sein und wir müssen uns bewusst sein, dass wir ausgehend von der Multiperspektivität um das Finden eines allgemeinen Standpunkts bemüht sind. Darüber hinaus sollten wir uns bewusst sein, dass es beim ethischen Urteilen um die aktive Ausgestaltung zukünftiger Handlungsspielräume geht, Handlungsspielräume, die sowohl die Welt, in der wir leben bestimmen und zugleich auch uns, die wir in dieser Welt ethisch urteilen und handeln. Im ethischen Urteilen ist also eine bestimmte Form menschlicher Freiheit immer mitgedacht, die uns vieles ermöglicht und die umsichtig praktiziert werden sollte.