Werden alle Stimmen gehört?

Ein Beitrag von Isabelle Bartram

In den meisten Gremien und Kommissionen, in denen die Pro- und Kontra-Argumente eines zukünftigen Einsatzes des Genome Editing am Menschen diskutiert werden, sind potentiell Betroffene nicht oder kaum beteiligt. [1] Auch in Medienbeiträgen zum Thema wird oft nicht mit erheblich beeinträchtigten oder erkrankten Menschen gesprochen, sondern lediglich über deren angenommene Bedürfnisse diskutiert. Körperliche und kognitive Beeinträchtigungen werden dabei als etwas Vermeidenswertes dargestellt und mit Sorgen, Leid, Belastung und Schmerzen assoziiert, wie z.B. die scharfe Kritik einer Journalistin mit Handicap am Radio-Feature „Pflege lebenslänglich“ des Deutschland Funks verdeutlicht.[2] Daraus wird dann oft sogar eine Verpflichtung zur Erforschung und Anwendung der neuen Techniken zur Beseitigung dieser (vermeintlichen) Leiden abgeleitet.[3]

Dies entspricht auch dem gesellschaftlich weit verbreiteten medizinischen Modell von Behinderung, nach dem soziale Nachteile das Ergebnis einer körperlichen Beeinträchtigung sind, die in der betroffenen Person begründet ist. Menschen in der Behindertenbewegung und den Disability Studies arbeiten stattdessen mit dem sozialen Modell, das die körperlichen und geistigen Besonderheiten nicht außer Acht lässt, die Behinderung jedoch in der Umwelt und Gesellschaft verortet. Nach der Logik des sozialen Modells sagt eine Beeinträchtigungsdiagnose nichts oder wenig darüber aus, ob der Mensch ein gutes Leben hat – bauliche oder gesellschaftliche Barrieren oder ein schlecht funktionierender Sozialstaat dagegen viel. Menschen werden nicht als behindert, sondern als durch ihre Umgebung behindert betrachtet. Kurz gesagt: Man ist nicht behindert, man wird es.

Problematisch kann es auch sein, wenn Angehörige von Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen oder Paare mit Kinderwunsch in der Debatte zu Stellvertreter*innen der potentiell mit Genome Editing behandelten Menschen werden. Zum einen erfahren sie, verglichen mit dem behandelten Menschen, ein geringes Risiko – es sind nicht ihr eigener Körper und nicht ihr eigenes Vererbungspotential, das nachhaltig verändert wird. Zum anderen können sie das Stigma kaum nachvollziehen, das eine Person mit Beeinträchtigung erfährt, die in einer Gesellschaft leben muss, in der potentielle Personen mit eben dieser Beeinträchtigung bevorzugt korrigiert oder ganz vermieden werden. Die Botschaft, die die Gesellschaft damit sendet, ist kaum mit der Botschaft der Integration und Inklusion vereinbar. Selbstverständlich variieren auch zwischen Menschen mit Behinderungen und Erkrankungen die Einschätzungen und Meinungen zu Genome Editing und dessen Potential – für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Genome Editing reicht es daher auch nicht, wenn nur wenige von ihnen angehört werden. Denn während einige die Ziele von vererbbarem Genome Editing befürworten, teilen andere diese Meinung nicht.[4] Beispielsweise werden sowohl angeborene Taubheit als auch Kleinwuchs des Öfteren als durch CRISPR-Cas9 verhinderbare Behinderungen angeführt. Viele Betroffene sehen sich jedoch nicht als Geschädigte und lehnen diesen defizitorientierten Blick auf ihr Leben ab. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Menschen mit diesen Behinderungen Reproduktionstechnologien nutzen, um gezielt Kinder mit der gleichen Behinderung zu bekommen.[5]

Die US-amerikanische Behindertenvertreterin Rebecca Cokley gibt zur Frage von Genome Editing zu bedenken: „Ich bin die, die ich bin, weil ich Kleinwuchs habe. Kleinwüchsige besitzen eine reichhaltige Kultur, so wie viele Behindertengruppen“ und fragt „wo ist die Grenze zwischen dem was die Gesellschaft als furchtbare, genetische Mutation wahrnimmt und der Kultur von jemandem?“.[6] Ähnlich beschreibt Jeff Johnson, der seit seiner Geburt mit Hämophilie lebt, die genetische Bluterkrankung als untrennbarer Teil seiner Identität „Ich bin Hämophilie. Ich habe es nicht. Ich bin Hämophilie.“[7] Eine Heilung wolle er daher nicht.


Fußnoten und Quellen

[1] Nur 1 von 26 Mitgliedern des deutschen Ethikrates und kein beteiligtes Mitglied der AG Gentechnologiebericht oder der Leopoldina war zum Zeitpunkt der aufgeführten Stellungnahmen Interessenvertreter*in von Menschen mit Erkrankungen, die potenziell von einem Genome Editing-Einsatz betroffen sein könnten.

Diskussionspapier der Leopoldina: Ethische und rechtliche Beurteilung des genome editing in der Forschung an humanen Zellen, März 2017, online unter: https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2017_Diskussionspapier_GenomeEditing.pdf

Broschüre der Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: Genomchirurgie beim Menschen, 2015, online unter: https://www.gentechnologiebericht.de/publikationen/genomchirurgie-beim-menschen-2015/

Stellungnahme des deutschen Ethikrates: Eingriffe in die menschliche Keimbahn, Mai 2019; online unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-eingriffe-in-die-menschliche-keimbahn.pdf

[2] https://uebermedien.de/53083/die-berichterstattung-ueber-behinderte-menschen-braucht-perspektivwechsel/

[3] Peter Wehling, Beatrice Perera und Sabrina Schüssler, Von reproduktiver Autonomie zur Präventionspflicht, Gen-ethischer Informationsdienst 252, S. 32-34, online unter

https://www.gen-ethisches-netzwerk.de/praenataldiagnostik/252/von-reproduktiver-autonomie-zur-praeventionspflicht

[4] Z.B. eine Befragung von Blinden https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/mgg3.803

[5] https://www.nytimes.com/2006/12/05/health/05essa.html

[6] https://www.washingtonpost.com/opinions/if-we-start-editing-genes-people-like-me-might-not-exist/2017/08/10/e9adf206-7d27-11e7-a669-b400c5c7e1cc_story.html

[7] https://www.theatlantic.com/science/archive/2018/08/hemophilia-gene-therapy-cure-identity/540987/