Das Prinzip der Pflicht – Deontologische Ethik

Vorgestellt von Annett Wienmeister

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Es gibt Ansätze, die moralisch gute Handlugen an die Erreichung eines bestimmten Zieles wie Lust (Hedonismus), Glück (Eudaimonismus) oder den größtmöglichen Ertrag positiver Werte (Utilitarismus) binden. Darüber hinaus gibt es aber auch Ansätze, die davon ausgehen, dass das, was Handlungen als moralisch gut auszeichnet, um seiner selbst willen gefordert ist: die sogenannten deontologischen Positionen, die wir uns jetzt anschauen wollen. Der Begriff δέον (deon) ist altgriechisch und bedeutet so viel wie „die Pflicht“, „das Nötige“, „das Erforderliche“. Einer der bekanntesten Vertreter_innen der Pflichtethik ist Immanuel Kant. Er lebte und wirkte im 18. Jahrhundert.[1] Schauen wir uns seine Antwort auf die Frage, was Handlungen als moralisch gute Handlungen auszeichnet, genauer an.

Ohne Einschränkung gut ist allein ein guter Wille

Für Kant liegt der moralische Wert einer Handlung nicht in unseren Neigungen zur Lust, unserem Streben nach Glück oder in einer Nutzenmaximierung begründet. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die Handlung aus einem guten Willen desjenigen hervorgeht, der sie ausführt. Ein bekanntes Zitat dazu stammt aus dem Buch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), in dem Kant sagt:

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als ein guter Wille.“ (GMS 393)

Der Mensch kennt Kant zufolge mehrere Bestimmungsgründe für sein Handeln. Zum einen können wir uns als Sinneswesen von unseren Trieben, Neigungen und Interessen und generell von äußeren Einflüssen leiten lassen. In diesem Falle handeln wir aber nicht selbstbestimmt, sondern wir bleiben fremdbestimmt – Kant nennt das heteronom. Dabei handelt es sich um ein altgriechisches Wort, das sich zusammensetzt aus dem Wort ἕτερος (héteros) für „anders“, „verschieden“, „fremd“ und dem Wort νόμος (nómos) für „Gesetz“, „Sitte“, „Ordnung“. Kant zufolge gilt aber auch, dass, selbst wenn ich es dem Zufall überließe, was mit mir geschieht, ich nicht selbstbestimmt handeln würde – denn das wäre überhaupt kein Handeln. Neben Neigungen und Interessen gibt es aber noch einen anderen Bestimmungsgrund unseres Willens und unseres Handelns. Wir sind nämlich nicht nur Sinneswesen, sondern auch Vernunftwesen. Und als Vernunftwesen können wir uns frei entscheiden, nicht nur nach unseren individuellen Neigungen, sondern auch aus allgemeingültigen vernünftigen Gründen zu handeln. Und wenn wir uns diese Gründe selbst geben und sie nicht einfach von anderen Autoritäten übernehmen, dann handeln wir wirklich selbstbestimmt – Kant nennt das autonom. Dieses Wort setzt sich aus dem altriechischen αὐτός (autós) für „selbst“ und νόμος (nómos) für „Gesetz“, „Sitte“, „Ordnung“ zusammen.

Imperative als Gebote der Vernunft

Was macht nun aber konkret unsere Handlungen zu moralisch guten Handlungen? Um diese Frage weitergehend zu beantworten, müssen wir uns Kant zufolge verschiedene Weisen anschauen, wie wir mit der Vernunft unseren Willen bestimmen können. Es handelt sich dabei um verschiedene Handlungsaufforderungen, die sich in sogenannten Imperativen der Vernunft ausdrücken. Kant unterscheidet zwei hypothetische Imperative vom kategorischen Imperativ – schauen wir uns zunächst die hypothetischen Imperative an.

Der hypothetisch-technische Imperativ: Wenn es z. B. darum geht, die notwendigen Mittel zur Erfüllung einer beliebigen Absicht zu erwägen, dann handelt es sich um einen sogenannten hypothetisch-technischen Imperativ. Dieser besagt in etwa Folgendes: Für den Fall, dass du X erreichen möchtest, musst du Y dafür tun. X kann dabei alles Mögliche sein – Schwimmen oder Klavierspielen lernen beispielsweise. Y steht für diejenigen Handlungen, die am Ehesten zur Erreichung des Ziels führen, z. B. Schwimm- oder Klavierunterricht nehmen. Kant nennt diese hypothetisch-technischen Imperative auch Regeln der Geschicklichkeit.

Immanuel Kant (1724 – 1804)

Der hypothetisch-pragmatische Imperativ: Ein zweiter hypothetischer Imperativ ist der sogenannte pragmatische Imperativ der Klugheit. Er richtet sich laut Kant an alle Menschen und nicht nur an diejenigen, die ganz spezifische Absichten verfolgen. Er richtet sich an alle, weil die Menschen ihm zufolge eine ganz bestimmte Absicht miteinander teilen, nämlich die der Glückseligkeit. Die sogenannten Imperative der Klugheit legen entsprechend Maßnahmen für die Beförderung des Glücks oder des Wohlergehens nahe, so z. B. Empfehlungen für eine gesunde Lebensführung. Da jedoch die konkrete Ausgestaltung eines glücklichen Lebens individuell verschieden ist, handelt es sich im strengen Sinne hier lediglich um Ratschläge der Klugheit.

Das moralische Gebot der Vernunft ist der kategorische Imperativ

Der kategorische Imperativ: Eine dritte Art des Imperativs als Forderung der Vernunft gebietet eine Handlung nicht nur hypothetisch als Mittel für die Erfüllung einer beliebigen Absicht oder einer allgemeinen Glücksabsicht, sondern kategorisch, weil die Handlung an sich geboten ist. Der kategorische Imperativ ist also nicht durch andere Zwecke oder Ziele bedingt, er gilt notwendig und ist damit ein Gesetz. Kant nennt den kategorischen Imperativ deshalb auch das Gesetz der Sittlichkeit. Und nur wenn unser Wille durch dieses Gesetz bestimmt ist, dann haben wir einen guten Willen und die aus ihm folgenden Handlungen sind moralisch gute Handlungen. Wie lautet nun der Kategorische Imperativ? Nun, es gibt verschiedene Formulierungen dieses einen Sittengesetzes. Am bekanntesten ist wohl die Universalisierungsformel.

Die Universaliserungsformel des Kategorischen Imperativs

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (GMS 421)

Unter dem Begriff einer Maxime versteht Kant unsere subjektiven Grundsätze, Grundhaltungen und Vorsätze, nach denen wir unsere einzelnen Handlungen ausrichten. Der kategorische Imperativ besagt nun, dass wir diejenigen Grundsätze wählen sollen, die zugleich ein allgemeines Gesetz werden können, das auch alle anderen vernünftigen Wesen mit guten Gründen anerkennen würden. Es handelt sich hierbei nicht um die sogenannte „Goldene Regel“, die sagt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Der kategorische Imperativ und die goldene Regel sind nicht dasselbe, zum einen, weil man nicht davon ausgehen kann, dass die eigenen Vorstellungen von Glück und Wohlbefinden von allen Menschen geteilt werden (das ist bestimmt nicht so). Zum anderen verlangt der kategorische Imperativ von uns aus Gründen der Vernunft zu handeln, selbst dann, wenn wir gar keine Lust darauf haben bzw. wenn wir keine Neigung zu dieser Handlung verspüren. Vielmehr noch: Kant sagt, gerade dann, wenn wir die Handlung, die der kategorische Imperativ von uns erfordert, völlig unabhängig sowohl von unseren Neigungen als auch von den möglichen Folgen ausführen, gerade und erst dann, handeln wir wirklich autonom und moralisch. Wir handeln Kant zufolge in diesem Fall aus Pflicht.

Wir haben gesehen, dass die Ausrichtung der Maximen unseres Handelns am kategorischen Imperativ bedeutet, dass wir unseren Willen nach vernünftigen Gründen bestimmen, die für alle anderen vernünftigen Wesen verständlich und akzeptierbar sind. Dadurch schließen wir zugleich auch aus, dass wir andere vernünftige Personen lediglich für unsere egoistischen Ziele einspannen und sie somit als Mittel für unsere eigenen subjektiven Zwecke gebrauchen. Eine weitere Fassung des kategorischen Imperativs ist dementsprechend die Selbstzweckformel.

Dass wir uns selbst und andere Personen nicht ausschließlich als Mittel zum Zweck nutzen, drückt sich auch in unserer Achtung für unsere und ihre Menschenwürde aus. Vernünftige Personen haben laut Kant als Zwecke an sich selbst deshalb nicht bloß einen relativen Wert, sondern einen inneren, absoluten Wert, eben eine Würde.

Die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst“. (GMS 429).

Die beiden Formulierungen des kategorischen Imperativs sind recht formal – Kant gibt uns also keine konkreten moralischen Gebote an die Hand, sondern ein ganz allgemeines Kriterium, welches uns anzeigt, wann unsere Handlungen moralisch gut sind und wann nicht. Schauen wir uns deshalb ein Beispiel von Kant an, um besser verstehen zu können, welchen Anspruch der kategorische Imperativ an unsere Willensbestimmungen und Handlungen stellt (klicke auf das Fragezeichen für die Lösung):

Warum sollten wir moralisch handeln wollen, völlig unabhängig von persönlichen Glückserwägungen?

Kants kategorischer Imperativ bietet eine Alternative zu den verschiedenen Prinzipien teleologischer Ethik, etwa der Lustbeförderung beim Hedonismus, dem Glücksstreben beim Eudämonismus und der Nutzenmaximierung beim Utilitarismus. Natürlich ist auch seine deontologische Ethik kritischen Fragen ausgesetzt. Eine Nachfrage betrifft die Motivation zum moralischen Handeln – warum sollten wir moralisch handeln wollen, wenn wir unseren Willen allein nach dem formalen Gesetz des kategorischen Imperativs bestimmen, völlig unabhängig von persönlichen Neigungen und Glückserwägungen? Wie Kant diesem Einwand begegnen würde, ist umstritten. Manche sehen in seiner Theorie schlicht eine lustfeindliche und lebensfremde Moraltheorie. Andere weisen darauf hin, dass es ihm nicht so sehr darum geht, moralisches Handeln und Neigungen bzw. Glück gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr darum, dass wir verpflichtet sind, moralisch zu handeln, egal ob wir dazu geneigt sind oder nicht. Seine Theorie biete uns daher einen Rahmen für die Bewertung ethischer Probleme, der von persönlichen Befindlichkeiten abstrahiert und eine unparteische und konsensuell tragfähige Entscheidungsgrundlage ermöglicht.

Ein weiterer Kritikpunkt an Kants Pflichtethik betrifft seine Ablehnung der Berücksichtigung von Folgen als moralisch relevantem Bestimmungsgrund unserer Handlungen. Im Volksmund wird der Einwand gerne so formuliert: „Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht“. Aber auch in diesem Punkt gehen die Kant-Interpretationen auseinander: Manche Kritiker_innen werfen Kant vor, die Folgen von Handlungen komplett zu vernachlässigen. Andere Interpret_innen relativieren den Einwand und weisen darauf hin, dass Folgen laut Kant lediglich für die Rechtfertigung von moralischen Handlungen zu vernachlässigen sind, nicht jedoch für Überlegungen zu konkreten Anwendungen moralischer Maximen. Demzufolge gilt es laut Kant sehr wohl, die Folgen unseres Handelns auf andere Personen mit zu bedenken (wie etwa beim Beispiel des falschen Versprechens) und es ist ihm zufolge auch moralisch geboten, das Wohlergehen anderer Menschen mit unseren Handlungen zu befördern.

Unparteilichkeit und Menschenwürde

Diese spannenden Forschungsfragen können an dieser Stelle nur erwähnt werden. Zum Abschluss möchte ich noch fragen, inwiefern die deontologische Theorie von Kant für die Urteilsfindung zum Thema Genome Editing relevant sein könnte. Kant weist uns darauf hin, dass moralische Fragen keine Fragen des rein individuellen Wohlergehens und des Glücks sind. Moralisch handeln wir vielmehr dann, wenn wir unseren Willen nicht durch unsere persönlichen Neigungen und Interessen bestimmen. Sobald wir nach der moralischen Vertretbarkeit des Genome Editing am Menschen fragen, fragen wir also nicht danach, was für uns persönlich gut wäre. Wir fragen vielmehr unter Berücksichtigung aller vernünftigen Wesen, was in einer bestimmten Situation als ein allgemeines Gesetz gelten könnte. Dabei gilt es immer auch, die Würde eines jeden Menschen im Blick zu behalten – eine reine Instrumentalisierung von Menschen, etwa für Forschungszwecke, wäre schlichtweg unmoralisch. Andererseits lässt sich jedoch auch überlegen, ob nicht bestimmte Eingriffe mit Genome Editing, die zur Vermeidung schwerer Krankheiten und somit zur Beförderung eines Lebens in vernünftiger Selbstbestimmung beitragen, vor dem Hintergrund der Menschenwürde im Kantischen Sinne geboten sind.


Textquelle: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, herausgegeben von Bernd Kraft und Dieter Schönecker, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999.

[1] Eine zeitgenössische Autorin, die die Ethik Kants aufgreift, ist beispielsweise Christine Korsgaard.