Das Prinzip des Vertrags – Kontraktualismus
Vorgestellt von Annett Wienmeister
Neben der Pflichtethik Kants ist eine weitere deontologisch ausgerichtete ethische Position der sogenannte Kontraktualismus. Mit diesem Begriff sind Theorien gemeint, die moralische Regeln mit Rückgriff auf einen hypothetischen Vertrag rechtfertigen. Einen solchen Vertrag würden Menschen als freie und gleiche Individuen schließen, um ihr gemeinschaftliches Zusammenleben zum Vorteil aller zu regeln. Aufgrund des Interesses, das alle Individuen an der Verbesserung ihrer eigenen Position haben, nimmt der Kontraktualismus einerseits Elemente des Utilitarismus auf. Andererseits entfalten die beschlossenen Regeln des Zusammenlebens einen normativen Anspruch, dem sich die Individuen verpflichtet fühlen, selbst wenn diese Regeln nicht in allen Fällen ihre persönlichen Interessen befördern. Vor diesem Hintergrund ist eine Zuordnung zu deontologischen Theorien angemessen. Seinen Namen hat der Kontraktualismus aus dem Englischen und dem Französischen: auf Englisch heißt Vertrag „contract“ und auf Französisch „contrat“.
Die Rechtfertigung von moralischen Normen und Prinzipien durch einen hypothetischen Vertrag
Der Kontraktualismus als Theorie des Gesellschaftsvertrages wurde im 17. und 18. Jahrhundert vor allem durch die Philosophen Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau ausgearbeitet. Diese Denker haben ihre Theorien mit dem Ziel entwickelt, Herrschaftsstrukturen und staatliche Ordnungen zu legitimieren. Vertragstheoretisch lassen sich jedoch auch ganz generell moralische Normen und Prinzipien rechtfertigen. In jüngerer Zeit hat John Rawls in diesem Sinne vertragstheoretisch für bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien argumentiert, die er als beste moralische Grundlage für die Einrichtung von Institutionen in demokratischen Gesellschaften betrachtet. Schauen wir uns dieses Beispiel genauer an.
Kollektive Selbstgesetzgebung hinter dem Schleier des Nichtwissens
Welche moralischen Grundsätze oder Prinzipien der Gerechtigkeit sind Rawls zufolge nun die Besten für demokratische Institutionen? Er würde sagen, diejenigen, die sich die Individuen einer Gesellschaft selbst im Rahmen einer Vertragsschließung geben würden. Hierbei setzt er sich kritisch von einer bestimmten Form des Utilitarismus ab, für den eine Gesellschaft genau dann gut eingerichtet ist, wenn ihre Institutionen eine größtmögliche Summe der Befriedigung von Interessen der Gesamtheit ihrer Mitglieder gewährleistet. Problematisch sei laut Rawls daran, dass es in dieser Gesellschaftsordnung nicht so wichtig ist, wie die Summe der Befriedigungen über einzelne Menschen verteilt ist: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige wenige Menschen große Vorteile genießen, welche in der Summe die Nachteile aufwiegen, die andere Menschen möglicherweise dadurch haben. Eine solche Gesellschaftsordnung entspreche jedoch nicht unseren Alltagsvorstellungen einer gerechten Gesellschaft, weil sie viel zu viele, auch tiefgreifende, Ungleichheiten legitimiere. Vielmehr gehen wir davon aus, dass es moralische Prinzipien braucht, die für wirklich alle Individuen vorteilhaft und gerecht sind und diese Prinzipien würden wir für unser Zusammenleben auch wählen.
Wie kommen Menschen nun dazu, gemeinsam Prinzipien der Gerechtigkeit zu formulieren? Am Besten gelingt dies Rawls zufolge mithilfe eines Gedankenexperiments: Die Menschen stellen sich vor, sie befänden sich als freie und gleiche Individuen in einem fiktiven Urzustand. Einerseits möchten sie gerne gemeinsam arbeiten und leben, weil es so einfacher ist, eine größere Menge an gesellschaftlichen Grundgütern zu erzeugen. Zu diesen Grundgütern gehören Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen. Andererseits ist die Menge an Gütern in einer Gesellschaft jedoch begrenzt und jedes Individuum hat ein legitimes Interesse an den Früchten der gemeinsamen Arbeit. Rawls ist der Auffassung, dass jedes Individuum sogar einen möglichst großen Anteil von diesen Früchten haben möchte, um die je eigenen Lebensziele verfolgen zu können. In dieser Situation der Spannung zwischen Vergesellschaftungsinteresse und Eigeninteresse ist es laut Rawls sinnvoll, dass die beteiligten Parteien ihre Gerechtigkeitsprinzipien hinter einem sogenannten „Schleier des Nichtwissens“ wählen, wenn sie einen entsprechenden Vertrag miteinander schließen. Das bedeutet, sie kennen weder den Platz und den Status, den sie in der Gesellschaft einnehmen werden noch ihre persönlichen Eigenschaften, etwa den Grad ihrer Intelligenz oder ihre Körperstärke. Zudem haben sie keine Vorstellung davon, welche konkreten Interessen sie verfolgen werden und was es für sie heißt, ein gutes Leben zu führen.
Zum Schleier des Nichtwissens: Die Menschen entscheiden allein auf Grundlage allgemeiner Kenntnisse über den Menschen (symbolisiert über die Strichmännchen auf der linken Seite) über die Einrichtung ihrer Gesellschaft, ohne ihre spezifischen Positionen und ihren jeweiligen Status in dieser Gesellschaft (rechte Seite) zu kennen. (Rawls‘ Original Position von Philosophyink, CC BY SA 4.0)
Ganz unwissend sind die Menschen im Urzustand jedoch nicht. Sie kennen zumindest allgemeine Tatsachen: So haben sie Einblick in politische und wirtschaftliche Prozesse und kennen sich mit der psychologischen Grundverfassung des Menschen aus. Diese Grundverfassung beschreibt Rawls so: Der Mensch im Urzustand ist autonom und vernünftig, er verfolgt eigene Interessen, nimmt aber kein Interesse an den Interessen anderer Menschen. Er hat einen Gerechtigkeitssinn und möchte auch danach handeln. Er verfolgt ein wie auch immer geartetes Wohl im Rahmen eines langfristigen Lebensplans, der auf die Befriedigung seiner vernünftigen Bedürfnisse ausgerichtet ist. Welche konkreten Bedürfnisse und Lebenspläne er allerdings hat, das weiß der Mensch hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht.
Prinzipien der Gerechtigkeit
Rawls behauptet nun, dass die Menschen mit ihren begrenzten Kenntnissen über ihre zukünftige Position sich im Sinne eines Vertrages auf folgende Gerechtigkeitsprinzipien einigen würden:
Zwei Prinzipien der Gerechtigkeit
- Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
- Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen. (Eine Theorie der Gerechtigkeit)
Die beiden Grundsätze stehen in einer Rangordnung: Der erste ist insofern grundlegender als der zweite, als die gleichen Grundfreiheiten nicht für größere wirtschaftliche oder gesellschaftliche Vorteile verletzt werden dürfen. Die Einschränkung einer Grundfreiheit kann demnach nur für die Beförderung einer anderen Grundfreiheit vorgenommen werden. Zu den Grundfreiheiten zählen Rawls zufolge politische Freiheiten wie z. B. Wahlfreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit, Gewissens- und Gedankenfreiheit, aber auch die Freiheit der Unverletzlichkeit der Person, sowie ein Recht auf persönliches Eigentum. Den zweiten Grundsatz präzisiert Rawls noch einmal, weil er sichergehen möchte, dass Ungleichheiten in einer Gesellschaft derart organisiert werden, dass sie denjenigen zugutekommen, die durch natürliche und gesellschaftliche Zufälle benachteiligt sind, etwa durch ihre Herkunft, ihre natürliche Charakterausstattung oder zufällige Schicksalsschläge.
Reformulierung des zweiten Prinzips der Gerechtigkeit
- Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu regeln, daß sie sowohl (a) den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen als auch (b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen gemäß der fairen Chancengleichheit offen stehen. (Eine Theorie der Gerechtigkeit)
Rawls geht davon aus, dass sich Individuen nicht nur auf die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit einigen würden, sondern dass sie sich zudem zu deren Einhaltung selbst verpflichten würden. Er begründet dies damit, dass die Menschen diese Grundsätze hinter dem Schleier des Nichtwissens und unter der Annahme wählen, dass alle Beteiligten frei und gleich sind und dass die Grundsätze auch allen Beteiligten zugutekommen. Das kontraktualistische Argument entfaltet seine normative Kraft demnach aus der Zustimmungsfähigkeit zum Vertrag, wie sie sich aus der Beschreibung des Urzustandes ergibt. Dabei ist es unerheblich, dass es sich um einen hypothetischen Vertrag handelt – was zählt ist, dass man gute Gründe für die Anerkennung des Vertrages für alle Parteien angeben kann. Und diese guten Gründe sieht Rawls insofern gegeben, als die beiden Grundsätze unter fairen Bedingungen für alle Beteiligten gewählt werden und sie eine faire Organisation der gesellschaftlichen Institutionen gewährleisten sollen.
Welches Menschenbild für den Urzustand?
Rawls Theorie der Gerechtigkeit, die auch als Theorie der Fairness bekannt geworden ist, wird, wie alle hier vorgestellten Moraltheorien, von Forscher_innen kritisch diskutiert. So lässt sich hinterfragen, ob die Rawlsche Beschreibung des Urzustandes und das in ihm gezeichnete Menschenbild zutreffend sind. Beispielsweise ist fraglich, ob sich Menschen aus Eigeninteresse und der Unkenntnis ihrer persönlichen Position in der Gesellschaft heraus auf den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz einigen würden, der soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten regeln soll. Vielleicht gäbe es ja risikobereite Menschen, die lieber nicht auf ihre eigene Sicherheit setzen wollen, sondern die darauf hoffen, dass sie zu den Gewinnern der Vergesellschaftungslotterie gehören. Es könnte aber auch sein, dass Menschen gar nicht so unbeteiligt an den Interessen und Bedürfnissen anderer Menschen sind und sogar sehr gerne Anteil am Schicksal anderer nehmen und dafür ihre eigenen Interessen hinten anstellen. Die normativen Annahmen, die sich aus der Rawls‘schen Beschreibung des Urzustandes ergeben sind also diskussionswürdig und vielmehr noch, sie sind selbst nicht vertragstheoretisch begründbar. Rawls sieht das selbst, aber er geht davon aus, dass seine Beschreibung des Urzustandes und die aus ihm abgeleiteten Gerechtigkeitsprinzipien sowohl unsere moralischen Gefühle als auch unsere wohlüberlegten Urteile über Gerechtigkeit im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts erklären.
Zustimmungsfähigkeit als Kriterium für die Bewertung von Handlungsalternativen
Zum Abschluss möchte ich wie immer fragen, inwiefern eine Vertragstheorie für die Urteilsfindung zum Genome Editing am Menschen beitragen kann. Eine besondere Stärke kontraktualistischer Argumente ist es, dass sie die Zustimmungsfähigkeit aller von einer Entscheidung betroffenen Personen als ein wichtiges Kriterium für die moralische Bewertung von Handlungsalternativen herausstellen. Gerade bei einer Biotechnologie wie dem Genome Editing, die unser Menschenbild und unsere Gesellschaft tiefgreifend verändern könnte, ist es wichtig zu fragen, in welche Regelungen alle Betroffenen einwilligen würden und in welche nicht und aus welchen Gründen. Auch kann das Rawls’sche Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens hierbei hilfreich sein, da es uns nahelegt, eine Perspektive einzunehmen, die insbesondere diejenigen in den Blick nimmt, denen womöglich Nachteile erwachsen. Die Regelungen zur Erlaubnis oder zum Verbot einzelner Anwendungen des Genome Editing wären entsprechend so zu wählen, dass diese Nachteile so weit als möglich vermieden werden.
Kontraktualistische Argumente können unsere ethische Urteilsfindung zudem noch auf eine weitere Weise unterstützen. Eine intensive Analyse der Eigenschaften des Menschen, wie wir ihn in der idealen Situation des Urzustandes beschreiben, kann uns nämlich Aufschluss über anthropologische Grundannahmen unserer moralischen Urteile geben. Diese Grundannahmen gilt es jedoch kritisch zu diskutieren. Eine solche Verknüpfung von anthropologischen und moralphilosophischen Untersuchungen ist allerdings nicht nur für kontraktualistische Theorien sinnvoll, sondern auch für die anderen hier vorgestellten hedonistischen, eudämonistischen, utilitaristischen und deontologischen Positionen.
Textquelle: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2017.