Über die Vielfalt der Begründungen
Ein Beitrag von Annett Wienmeister
Die normative Ethik beschäftigt sich u.a. mit der Frage, „Was soll ich tun?“ bzw. „Wie soll ich in einer bestimmten Situation am Besten handeln?“. Diese Fragen zielen dabei auf ganz bestimmte Handlungen, nämlich solche, die wir als moralisch gute Handlungen bezeichnen würden. Es geht also nicht darum, zu entscheiden, wie ich am schnellsten von einem Ort zum anderen kommen kann oder wo ich die leckersten Falafel bekomme. Es geht vielmehr um die Frage, welche unserer Handlungen moralisch gut bzw. richtig sind und wie wir das entscheiden und begründen können.
Wie moralisch richtig handeln?
Wie entscheiden wir nun, welche Handlungen moralisch gut oder schlecht, welche geboten oder verboten sein sollen? Zur Beantwortung dieser Frage sind in der Ethik zahlreiche Vorschläge gemacht worden. Viele dieser Theorien machen dabei sogenannte moralische Prinzipien geltend, die uns helfen sollen, einzelne Handlungen unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten. Der Begriff des Prinzips wird dabei nicht immer einheitlich gebraucht. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet der Begriff des „principium“ soviel wie „Anfang“, „Ursprung“, „Grund“ oder „Grundlage“. In der Ethik wird ein Prinzip entsprechend als ein Grundsatz für unser Denken und Handeln benutzt. Es handelt sich dabei um einen allgemeinen Satz, der nicht nur auf einen Fall, sondern auf viele Fälle anwendbar ist.
Prinzipien als allgemeine Grundsätze des Handelns
Wie allgemein wir den Begriff des Prinzips fassen sollten, wird von Ethiker_innen verschieden beantwortet. Manche denken an recht spezifische moralische Werte und Normen, wie etwa das Lügenverbot, das Gebot der Wohltätigkeit oder der Solidarität. Andere nutzen den Begriff lieber für noch allgemeinere Grundsätze, die uns u. a. dabei helfen können, spezifischere Prinzipien zu rechtfertigen. Beispiele wären etwa der kategorische Imperativ von Immanuel Kant oder auch das hedonistische Kalkül des Utilitarismus. Mit beiden Prinzipien lässt sich beispielsweise das Lügenverbot begründen, wobei die Art und Weise, wie diese Begründung erfolgt, von der jeweiligen komplexen philosophischen Theorie abhängt. Wie sich diese beiden Begründungen unterscheiden, erfährst du auf den Seiten zum Prinzip der Pflicht und zum Prinzip des Nutzens.
Bei der Pflichtethik und beim Utilitarismus handelt es sich um monistische ethische Theorien, die ein einziges, oberstes Prinzip stark machen, welches unsere ethische Urteilsfindung leiten soll: die Pflicht bzw. den Nutzen. Es gibt aber auch noch andere, pluralistische Theorien, die nicht auf dieser allgemeinsten Prinzipienebene nach Antworten auf ethische Fragen suchen, sondern eher auf der Ebene von mehreren, spezifischeren Prinzipien. So haben Tom Beauchamp und James Childress für den Bereich der biomedizinischen Ethik vier „Prinzipien mittlerer Reichweite“ aufgestellt, die die Grundlage für die Bewertung konkreter Fragestellungen bilden. Bei den vier Prinzipien handelt es sich um Selbstbestimmung (autonomy), Schadensvermeidung (nonmaleficence), Wohltätigkeit/ Fürsorge (beneficence) und Gerechtigkeit (justice). Sollte bei der Frage, was das moralisch Richtige in einer Situation ist, ein Konflikt zwischen zwei oder mehreren dieser mittleren Prinzipien auftreten, dann müssen sie gegeneinander abgewogen werden.
Die Vielfalt moralischer Begründungen
Es gibt natürlich auch religiös motivierte Ethiken, die die Frage, was moralisch richtig oder falsch ist, mit Rückgriff auf Normen und Werte begründen, die religiös verankert sind. So spielt etwa im Judentum und im Christentum die Gottesebenbildlichkeit des Menschen für die Begründung der Menschenwürde eine große Rolle. Zudem machen beide Religionen wie auch der Islam den Schöpfungsgedanken der Welt durch Gott stark und leiten aus ihm verschiedene moralische Normen ab, wie etwa den Schutz der Natur und des Lebens. In Buddhistischen und Hinduistischen Ethiken wiederum spielt das Motiv der leidvollen Wiedergeburt eine große Rolle, aus dessen Zyklus es auszubrechen gilt. In diesem Zusammenhang ist das Prinzip des Nicht-Verletzens anderer ganz grundlegend.
In der jüngeren Vergangenheit haben sich zudem weitere normative Ansätze entwickelt, die den Fokus auf neue gesellschaftliche Entwicklungen sowie unterrepräsentierte Fragestellungen, diskriminierende Praktiken und nicht hinreichend berücksichtigte Perspektiven auf moralische Probleme lenken, wie etwa die Interkulturelle Ethik, die Feministische Ethik, die Care-Ethik oder die Disability Studies.
Lust, Glück, Nutzenmaximierung, Pflicht, Vertrag
Es ist an dieser Stelle leider nicht möglich, der großen Vielfalt der normativen Ethiken gerecht zu werden, es gibt jedoch verschiedene Strategien, mit der ethischen Vielfalt umzugehen. Im Folgenden möchte ich mich auf Hauptströmungen beziehen, die im europäischen Kulturkreis prägend waren und sind und die nicht an eine bestimmte Religion oder einen bestimmten Teilbereich menschlicher Beziehungen gebunden sind. Es handelt sich also um Theorien, die versuchen, ganz allgemeine Prinzipien aufzustellen, die als Kriterien für die moralische Richtigkeit einer Handlung und zur Begründung von spezifischen handlungsleitenden Normen und Werten dienen sollen. So werden die Prinzipien der Lust (Hedonismus), des Glücks (Eudaimonismus), der Nutzenmaximierung (Utilitarismus), der Pflicht (Deontologische Ethik) und des Vertrags (Kontraktualismus) genauer vorgestellt.
Wichtig im Hinterkopf zu behalten ist, dass die Unterscheidung verschiedener Moralprinzipien selbst Gegenstand der Forschung ist. Oftmals vertritt eine Ethikerin oder ein Ethiker auch nicht eines dieser Prinzipien in Reinform, sondern setzt eher Schwerpunkte auf das eine oder andere Prinzip, je nach Situation und Kontext. Als grobe Orientierung für unser Denken ist die Unterscheidung der fünf Moralprinzipien jedoch hilfreich. Sie lassen sich für diesen Zweck noch einmal in zwei Gruppen einteilen: So kann man den Hedonismus, den Eudaimonismus und den Utilitarismus als sogenannte teleologische Theorien bezeichnen. Diese gehen davon aus, dass eine Handlung ihren moralischen Wert durch das angestrebte Ziel (altgriechisch τέλος) erhält – beispielsweise individuelle Lust oder allgemein das Glück von Individuen oder einer Gruppe von Menschen. Demgegenüber lassen sich die Pflichtethik und der Kontraktualismus allgemein als deontologische Theorien bezeichnen. Diese legen den Fokus nicht auf das gewünschte Ziel einer Handlung, sondern sie fragen, ob eine Handlung aus einer Absicht heraus erfolgt, die anerkennt, dass die Handlung an sich moralisch richtig und deshalb auch gefordert ist. Die Erfüllung bestimmter Ziele – z. B. die Beförderung von Lust – ist bei der Begründung, warum eine Handlung moralisch richtig ist, unerheblich. Was zählt ist vielmehr die moralische Pflicht (altgriechisch δέον für„Pflicht“, „das Erforderliche“, „das Nötige“). Für die beiden deontologischen Theorien gilt demnach, dass sie bei der Begründung des moralisch Richtigen, anders als beim Hedonismus und Eudämonismus, Fragen des individuellen Glücks zurückstellen.