Vernunftmigration

Eine junge Frau aus Sibirien beginnt ein neues Leben in Deutschland

von Alesja Kurnosowa

Elena Tschatorova lebt seit mehr als drei Jahren in Deutschland. In ihre Heimatstadt Tomsk, das so genannte Herz Sibiriens, kehrt sie nur noch als Gast zurück. Dort sind ihre Eltern und die strengen Winter geblieben.

Zum ersten Mal kam Elena als Studentin nach Deutschland. Über ein DAAD-Stipendium studierte die angehende Germanistin ein Semester an der Universität Leipzig. Für sie sollte es eine gute Möglichkeit werden, sich beruflich zu entwickeln. Doch nach diesen sechs Monaten kam sie nur kurz nach Tomsk zurück: Um ihr Visum zu verlängern und ihren Koffer neu zu packen. Sie wollte in Europa leben und dort als Dolmetscherin arbeiten.

„Das erste, was mir aufgefallen ist, war das Wetter“, erinnert sie sich an ihre ersten Eindrücke, als sie das Flugzeug verlassen hat. „Im Oktober war noch alles grün. Unglaublich! In meiner Stadt hat es geschneit und hier schien die Sonne.“ Das Leben in Deutschland kannte sie nur aus dem Fernsehen und aus Büchern. Über alltägliche Probleme hat sie sich keine Gedanken gemacht. „Es gibt Menschen, die ziemlich lange nicht mit den Deutschen klarkommen. Das Studium an sich war nicht schwer. Germanistik habe ich auch an meiner Heimatuni studiert. Von daher gab es überhaupt keine Kommunikationsprobleme. Aber der sächsische Dialekt war ein Horror für mich. Ihn kann ich bis heute nicht verstehen.“

Dennoch konnte sie sich an das Leben hier schwer gewöhnen. „Besonders haben mich die Busse fasziniert, die immer pünktlich kamen. Die Deutschen waren immer freundlich und nett zu mir, besonders wenn man sagte, man habe ein DAAD-Stipendium“, sagt die 25-Jährige. Die Leute seien völlig verrückt nach Müll-Trennen. „In unserem Wohnheim lagen meine Nachbarinnen immer auf der Lauer, ob ich meinen Joghurt-Becher richtig entsorgt habe.“ Besonders ungewöhnlich fand sie, dass die Geschäfte am Sonntag geschlossen haben. „Man musste immer am Samstag einkaufen, um am Sonntag was zu Essen zu haben.“ Auffällig fand sie, dass an der Kasse, im Bus oder beim Studium ihr jedes Mal ein schöner Tag gewünscht wurde. „Man wird immer begrüßt, die Verkäuferinnen rümpfen nicht die Nase, wenn man etwas anprobiert und es dann doch nicht kauft.“

In Leipzig hat Elena ihre große Liebe gefunden. Nach der Hochzeit mit dem 43 Jahre alten Michael, wurde der kleine Leon geboren. „Mein Mann und mein Sohn leben in Wiesbaden und natürlich bleibe ich auch hier. Für meinen Sohn ist Deutschland die Heimat. Ich will mein Promotionsstudium fortsetzen, denn Doktoren schätzt man hier sehr. Dann versuche ich, eine Arbeit als Dolmetscherin zu bekommen. Ich meine, das passt am besten zu mir.“ Natürlich vergisst sie Tomsk und ihre Eltern nicht. Mindestens ein Mal pro Jahr besucht sie ihre alte Heimat. „Mein Mann will nicht nach Russland ziehen und für meinen Sohn wird es besser sein, hier aufzuwachsen und zu studieren.“, meint sie.

„Im Großen und Ganzen finde ich das Leben in Deutschland schön. Ich bin seit über drei Jahren hier und habe keine Probleme im Sozialen und Privaten“. Die kulturellen Verschiedenheiten durchlebt jeder Ausländer auf seine Art. Für die einen bleibt Deutschland fremd, die anderen finden hier zu sich selbst und können sich ein anderes Leben nicht vorstellen.

Jährlich kommen über 400.000 Ausländer nach Deutschland, 60 Prozent davon sind junge Wissenschaftler. Die Mehrzahl der Russen unter ihnen kommt als Aussiedler nach Deutschland. Die ersten Russlanddeutschen sind schon 1950 übergesiedelt. In den 90er Jahren, als die russische Wirtschaft ihren Wendepunkt erlebte und das Lebensniveau vieler Russen sank, ist die Zahl der Aussiedler aus Russland bedeutend gewachsen. Jetzt gehen vorallem die besonders gut Ausgebildeten, Menschen mit wissenschaftlichen Graden, Doktoren und Professoren. Etwa 80.000 russische Wissenschaftler verließen damals ihre Heimat. Zu dieser Zeit schimmerten die Zeitungen bunt über die Krise der russischen Wissenschaft. So verlor Russland etwa 50 Milliarden Dollar in der Zeit der Schocktherapie. Dieser Prozess dauert bis heute an, wenn auch in geringerem Ausmaß. Heute meisten viele Russen, ihr Heimatland gebe ihnen genug Chancen für eine berufliche Entwicklung und zur Erhöhung des Lebensniveaus.

Die Autorin

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Alessja Kurnosowa wurde in der Stadt Kolpaschevo im Tomsker Gebiet in Russland geboren. Bis 2007 studierte sie an der Tomsker Staatlichen Universität „Germanistik“, sowie „Dolmetscher und Übersetzung in der modernen Kommunikation“. Seit 2007 arbeitet sie an der TSU als Deutschlektorin. Als Fernsehjournalistin arbeitet sie von 2007 bis 2008 beim Fernsehsender „Stern Tomsk“, seit 2008 für die Staatliche Rundfunk- und Fernsehgesellschaft „Russland 1“ und für die Fernsehsendung „Vesti Tomsk“ als Korrespondentin im Nachrichtendienst.
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