Integration durch Werte-Patriotismus?

Europas Migranten brauchen dringend eine eingliedernde Identität. Die demokratischen Ideale der EU könnten das Fundament dafür sein. Wie wahrscheinlich ist der Erfolg?

von Marco Funk

Wie einst am Hafen von New York landen heute jeden Tag tausende von arbeitswilligen, hoffnungsvollen Migranten an den Stränden des Mittelmeers. Sie kommen, um ein besseres Leben zu suchen, wie damals in den USA. Der einzige kleine Unterschied: in New York wurden sie mit der Freiheitsstatue begrüßt. Auf Lampedusa grüßt zuerst mal das Auffanglager.

Europa ist längst zu einem bedeutenden Einwanderungsziel geworden, aber es scheint dies noch nicht richtig begriffen zu haben. Migranten sind für Deutsche oder Franzosen immer noch keine Selbstverständlichkeit wie in den USA. Dabei sind sie aber von unglaublicher Bedeutung, nicht zuletzt als Antwort auf die stetig schrumpfende, überalternde Bevölkerung Europas. In der Politik spricht man bereits von einer demographischen Krise, die unüberwindbar scheint.

Wenn Einwanderer die Lösung sein sollen, muss viel in der Europäischen Gesetzgebung geschehen. Integration ist heute ein bekanntes Stichwort, das aber über Jahre hinweg vernachlässigt wurde. Diskriminierende Bildungssysteme, komplizierte Aufenthaltsregelungen und mangelnde Einwanderungsplanung haben zu teilweise erheblichen sozialen Spannungen geführt. Zudem macht es das ethnisch geprägte Nationalbewusstsein der europäischen Länder für Migranten schwer, sich ihrer neuen Heimat zugehörig zu fühlen.

Es gilt nun, die Fehlentwicklung der Vergangenheit möglichst schnell zu korrigieren. Aber wie? Die meisten Fragen zur Einwanderungspolitik wären relativ einfach zu klären, wenn alle EU-Staaten dieses Ziel gemeinsam und entschlossen anpacken würden. Viel schwieriger ist jedoch die Frage, wie ein Gefühl der europäischen Dazugehörigkeit unter Migranten geschaffen werden soll. Dies ist besonders wichtig für eine gelungene Integration.

Die Antwort liegt vielleicht in der vorhin aufgeführten Symbolik. Braucht Europa eine Freiheitsstatue? Könnte die Europäische Union als übernationales, nicht-ethnisches Symbol der demokratischen Werte, die allen zustehen, unter Migranten eine Art „Werte-Patriotismus“ schaffen wie in den USA?

Integrationsexpertin Lamya Kaddor, Autorin des Buches „Muslimisch, weiblich, deutsch“, ist da eher pessimistisch. Ihrer Meinung nach ist die EU für die meisten Migranten zu weit weg; Brüssel hat für sie keine große Bedeutung. Außerdem seien die meisten Migranten nicht in der Lage, europäische Werte von der europäischen Mehrheitskultur zu trennen.

Wenn sie es trotzdem schaffen würden, sich in irgendeiner Weise mit der EU zu identifizieren, würde die fehlende Fremdbestätigung aus einer zunehmend euroskeptischen Mehrheitsbevölkerung ihr fragiles Dazugehörigkeitsgefühl sofort wieder löschen.

Fremdbestätigung beiseite, würde es Migranten überhaupt leichter fallen, sich eher mit europäischen Werten zu identifizieren als mit nationaler Symbolik? Es ist jedenfalls denkbar, dass ein Europa-Neuankömmling aus Afrika mit Tiroler Volksmusik weniger anfangen kann als mit dem EU Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen.

Barbara John, langjährige Politikerin und ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, ist der Meinung dass sich Migranten eher mit dem Lokalen identifizieren können und weniger mit dem Nationalen oder Übernationalen. „Man soll zuerst die nationale Definition breiter machen bevor man das Europäische hervorheben kann“, sagt sie. Europa sei nach wie vor abstrakt, es könne Migranten daher keine klaren Anhaltspunkte verleihen.

Demokratische Werte sind in der Tat abstrakt, aber immerhin wurden die Vereinigten Staaten von Amerika auf genau diesem ideologischen Fundament gebaut. Wenn das in den USA funktioniert hat, könnte es auch in Europa geschehen?

Nicht so leicht, meint Dr. Ulrike Guérot vom European Council on Foreign Relations. Das Problem liege darin, dass Europa keine emotionale Wurzel habe. Europa hat kein Gründungsmythos wie die USA; die technokratische Enstehungsgeschichte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union kann mit der Unabhängigkeitserklärung der „Founding Fathers“ nicht mithalten. „Ein Binnenmarkt hat keine Seele“, so Guérot, deshalb fehle es an einem paneuropäischen Einheitsgefühl, an dem jeder feierlich teilhaben kann.

Es wird also wohl nichts mit der europäischen Freihheitsstatue. Wie Integration und Dazugehörigkeitsgefühl geschaffen werden sollen bleibt eben noch offen, wie auch das Auffanglager auf Lampedusa.

Der Autor

Marco Funk ist in den USA, Südtirol (Italien) und England multikulturell aufgewachsen. Heute studiert er Politikwissenschaft und Journalismus an der University of Central Florida in Orlando, USA. Zu seinen Interessen gehören internationale Geopolitik, Europäische Integration, US Außenpolitik und transatlantische Beziehungen.

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