Die Russlanddeutsche Kim Nagel lernte Deutschland im Aussiedlerheim kennen
von Mary Lane
Kim Nagel, jetzt eine dreiunddreißigjährige Buchhalterin in Friedrichshain, war siebzehn Jahre alt, als sie mit einem Teil ihrer Familie aus Russland nach Deutschland kam. Damals, im Jahr 1994, kurz nach dem Ende des Kalten Krieges, war Russland ein Staat mit zerbröckelnder Infrastruktur und politischer Instabilität. Die Russin Kim Nagel hatte gerade angefangen ihr erwachsenes Leben zu entwickeln und wurde mit einem Land im Wandel, mit einem gebrochenen Ausbildungs-, Arbeits- und Sozialsystem konfrontiert. Nagels Großmutter Ekatherina, damals 56, wollte etwas Anderes für ihre Familie und ihre Enkeltochter: ein neues Leben in der wiedervereinigten Bundesrepublik. „Meine Oma dachte, dass die Zukunft für Kinder in Europa viel besser sei. Sie hatte nur an die Zukunft für uns Kinder gedacht.“ sagt Kim.
Nagel ist eine fitte dunkelblonde Frau, die fließend Deutsch mit erkennbarem russischen Akzent spricht, und sich jetzt in Deutschland wohl fühlt. Trotzdem war es nicht immer so. Während eines Interviews, nahe ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg, sprach Nagel über ihren langen, persönlichen Weg zur Integration. Im Vergleich zu den meisten Russen hatte die Familie Nagel die Gelegenheit in Europa ein neues Leben aufzubauen. Sie gehören zu der Minderheit von Russlanddeutschen, Arbeitern und Bauern, die im 18. Jahrhundert nach Russland wegen ihres guten Rufes als ausländische Facharbeiter immigrierten: „Unsere Familie waren sogenannte Volksdeutsche”, erzählt Nagel. „Wir sind 1726 aus Schwaben, Deutschland, nach Russland gefahren. Die Zarin Katharina II. hatte die Deutschen gerufen, um Russland aufzubauen.“
Nach mehr als zweihundert Jahren in Russland war die Familie Nagel rein technisch gesehen immer noch deutsch, und sie bewarb sich um neue Reisepässe, damit sie wieder in Deutschland wohnen konnten. Nach einem dreijährigen bürokratischen Prozess von Bewerbungen beim Staatsarchiv bekam die Familie Flugtickets von der deutschen Regierung und eine Einladung, wieder in Deutschland zu leben.
Bis dahin war Nagel nie außerhalb der Sowjetunion gewesen. Sie sei aufgeregt aber ahnungslos gewesen: „Ich habe mich ehrlich gefreut. Ich wusste gar nicht, was mich erwartet. Ich wusste nicht, wie Deutschland eigentlich ist.“ Sie habe die emotionale und sprachliche Herausforderungen von ihrem neuen Leben in Deutschland unterschätzt. Am Anfang konnte sie kein Deutsch sprechen, und ihre Mutter musste in Russland bleiben, weil sie von Nagels Vater getrennt und selbst keine Russlanddeutsche war. „Ich habe gehört, das Leben ist hier besser“, sagte Kim. „Ich habe aber nicht daran gedacht, wie schlimm es wird ohne Freunde, ohne Mama. Du denkst erstmal nicht daran als eine 17-Jährige.“
Als die Familie Nagel nach Deutschland zog, wohnte sie zuerst für ein Jahr in einem Aussiedlerheim in Berlin, in Marienfelde. Sie lebten zusammen mit anderen Ausländern und nahmen an einem Integrationssprachkurs teil. Der Kurs sei sehr intensiv gewesen – ungefähr vierzig Stunde pro Woche – und die Lehrerin kümmerte sich nicht um die Probleme der Integration der Übersiedler. Kim empfand Marienfelde als einen isolierten Teil der Hauptstadt, ohne Deutsche in der Nähe: „Die erste drei Jahre hatte ich gar keine deutschen Freunde. Ich hatte nur mit Russen Kontakt weil das ganze Heim kam aus Russland“, sagt Nagel. „Man hat sich nur allein gefühlt.“
Der Weg zur Integration war lang und schrittweise. 1996 ging sie auf eine Berufsschule. Dort lernte sie mehr Deutsche kennen aber sie hatte nur mit zwei Kontakt gehabt. Die anderen hatten keine Lust, ihrem langsamen und manchmal stockenden Deutsch zuzuhören, und haben Nagel ignoriert. „Sie haben nicht gesprochen, gar nichts“, sagt sie. „Als ob du gar nicht da warst. Obwohl du manchmal etwas gefragt hast. Keinen hat interessiert von wo du kommst. Es war ihnen total egal.“
Nagel wurde langsam selbstsicherer und traute sich endlich, sich mit Deutschen zu unterhalten, durch mehr Kontakt mit anderen Ausländern, die Deutsch sprechen konnten. 1997 begann sie bei einem asiatischen Imbiss in der Kastanienallee zu arbeiten, wo alle Mitarbeiter kein Deutsch als Muttersprache sprachen. „Wir haben viel gelacht, wir haben mit Händen und Füssen gesprochen, weil die mich nicht so richtig verstehen konnten“, sagt Nagel. „Mit Ausländern war es viel einfacher. Sie haben dir zugehört, sie waren nett, sie haben probiert, zu helfen.“
Nach fünfzehn Jahren in Deutschland sei es Nagel behaglich in Berlin geworden, aber Russland gilt noch als ‚Heimat’ für sie. Integriert sei sie bestimmt, aber sie erkenne ihre Erfahrungen als Kind und Mädel in Russland als die Wurzeln ihrer nationalen Identität an: „Ich fühle mich hier wohl in Berlin und bin zufrieden mit dem, was ich habe. Aber zu sagen das ich Deutsche bin? Das würde sich blöd anhören.“