Mutter und Sohn erfahren unterschiedliche Migrationen zum selben Ziel
Von Anna Mageras
Ursula Beyrodt, heute 78, kann die zwei Männer noch vor sich sehen, die an einem Abend im November 1938 in die Wohnung ihrer Eltern traten und sich im Wohnzimmer breit machten. „Mutti, die Männer sehen so düster aus“, soll sie damals gesagt haben, konnte jedoch als Fünfjährige nicht ahnen, dass diese Männer von der Gestapo gekommen waren, um ihren Vater zur Deportation ins Konzentrationslager Sachsenhausen zu führen. Frau Beyrodt kann sich auch noch daran erinnern, wie ihr Vater kurz vor Weihnachten desselben Jahres mit kahl geschorenem Haupt nach Hause zurückkehrte, und von ihrer Mutter in die Arme geschlossen wurde.
Der Familie war es trotz seiner Rückkehr klar, dass die Gefahr noch lange nicht vorüber war. So entschlossen sich die Eltern, ihre zwei Töchter mit dem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen. Die Mädchen kamen 1939 an der Nordwestküste Englands an und wurden mit anderen Flüchtlingskindern in einem Heim untergebracht, das von der dortigen jüdischen Gemeinde geleitet und finanziert wurde.
Als der Krieg endlich endete, befand sich das Heim plötzlich in Auflösung. „Alle anderen Mädchen im Heim hatten ihre Eltern in den KZs verloren“, erinnerte sich Ursula Beyrodt, deren Vater zwei KZ-Inhaftierungen überlebt hatte. „Und viele von ihnen sagten, nach Nazi-Deutschland würden sie nie zurückgehen.“ Einige blieben in England, wo sie sich verlobt oder verheiratet hatten, andere wanderten zu Verwandten in die USA oder nach Palästina aus.
Die Emigration hatte Beyrodts Eltern auch kurz vorgeschwebt. Sie hatten zu dem Zweck schon vor Kriegsbeginn ihre Wohnung in Berlin aufgegeben und waren nach Hannover gezogen, wo sie einer jüdischen Gartenbauschule beitraten. Dort wollten sie einen praktischen Beruf lernen, mit dem sie im Ausland ihren Unterhalt hätten verdienen können. Mit dem Kriegsausbruch wurden jedoch alle Hoffnungen auf eine Flucht zerstört.
1945 erfuhr die Familie noch mal einen Schock, als der Vater zum zweiten Mal von den Nazis festgenommen und diesmal ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht wurde. Er entkam der Deportation nach Auschwitz gerade noch, weil die Rote Armee das Lager rechtzeitig befreien konnte.
Trotz ihrer Erlebnisse schien mit der deutschen Niederlage 1945 der Wunsch nach Auswanderung zu verschwinden und Vater und Mutter stellten sich auf die Fortsetzung ihres Familienlebens in Deutschland ein. „Meine Eltern haben immer, selbst in den schlimmsten Zeiten, an das bessere Deutschland geglaubt. Sie haben wirklich unterschieden zwischen den Deutschen und den Nazis“, erklärte Beyrodt. Vor allem die Zivilcourage einzelner nichtjüdischer Deutscher ermöglichte es ihnen. während der NS-Zeit auf dieser Einstellung zu verharren. Sie erinnert sich zum Beispiel an den Hausmeister eines Krankenhauses, der das Ehepaar während Bombenangriffen in den Keller des Hospitals ließ. „Das war ein alter Sozialdemokrat aus altem Schrot und Korn“, sagte Ursula Beyrodt. „Und der hat auch was riskiert.“
Statt nach Israel auszuwandern und dort womöglich arbeitslos mit dem ihm unbekannten Hebräisch zu kämpfen, wollte der Vater also lieber als Richter am Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands mitarbeiten. Er habe nach 1945 dem deutschen Rechtsstaate vertraut. Ihre Mutter hat ihrerseits bei der Demokratisierung geholfen, indem sie bürokratisch die moralische Belastung deutscher Bürger ausgewertet und dadurch den Entnazifizierungsprozess vorangebracht hat.
Von dieser Überzeugung ihrer Eltern ausgehend, kehrten Ursula Beyrodt und ihre Schwester 1947 nach Deutschland zurück. Dort erwartete sie das dem Bildungsbürgertum heilige Studium, welches zu einer juristischen Laufbahn führen sollte, und vor allem natürlich eine Familie. Doch die musste nach so langer Trennung erstmal wieder zusammenwachsen, und sich fast von neuem kennen lernen.
Die damals vierzehnjährige Ursula hatte die deutsche Muttersprache fast ganz vergessen und die Worte, die ihr wieder einfielen, kamen aus dem Sprachschatz einer Sechsjährigen. Sie fühlte sich durchaus noch als Engländerin. Dennoch verhalfen ihr unter anderem die Einfühlsamkeit ihrer Mutter, die enge Freundschaft mit einer Mitschülerin und die nette Aufnahme durch ihre Klassenkameradinnen (von denen einige noch kurz vorher BdM-Führerinnen gewesen waren) zu einer allmählichen Eingewöhnung. Das Gefühl, absolut Deutsche zu sein, wuchs langsam nach.
„Vor allem hatte ich dieses Gefühl, ein richtiges Zuhause zu haben und nicht mehr ein Heimkind zu sein“, sagte Beyrodt. „Ich war plötzlich jemand.“
Und zu diesem Jemand gehörte auch weiterhin im Nachkriegsdeutschland das Judentum. Im englischen Heim hatte der jüdische Religionsunterricht eine große Rolle gespielt. Die stundenlangen Schabbatgottesdienste hatten Ursula Beyrodt zwar gelangweilt, dafür hatte sie die Bedeutsamkeit des Kiddusch, der Freitagszeremonie, verinnerlicht und führte sie in ihrer Familie ein. „Heute bin ich dankbar dafür, dass ich damals so viel gelernt habe, denn in unserer liberaljüdischen Gemeinde bin ich unter den wenigen, die die Gebete beherrschen.“
Allerdings wurde der Glaube für die Familie immer mehr zur Privatangelegenheit, da es nach dem Krieg nur orthodoxe Synagogen gab und das liberale Judentum größtenteils ausgewandert war. „Es ist ja immer so: Nach Verfolgungszeiten ist meistens eine Rückkehr zum Strenggläubigen da“, meinte Beyrodt dazu.
Diese Entwicklung passte jedoch insbesondere ihrem Vater nicht: „Immer wenn Feiertage waren sagte meine Mutter: ‚Fritz, wir müssen in die Synagoge gehen.’ Und dann sagte mein Vater, ‚Ich würde ja gerne, aber die ganze Nazizeit über, außer in der KZ-Zeit, sind wir zusammen gewesen. Aber in der Synagoge sitze ich unten und du musst oben sitzen.’ Das hat ihn immer gestört.“
Die graduelle Abwendung von der orthodoxen Gemeinde, sowie mangelnder Kontakt zu anderen liberalen Juden führte schließlich dazu, dass Ursula einen Protestanten in einer Kirche heiratete. Obwohl sie eine Zeit lang noch gemeinsam freitags den Schabbat feierten, sahen sich Ursula und ihr Mann genötigt, ihre Kinder christlich aufzuziehen. Sie befürchteten, ihre beiden Söhne würden sonst später vor den gleichen Problemen stehen und in einer nicht-jüdischen Umgebung ohne wirkliche Gemeinschaft leben und womöglich auch deshalb Schwierigkeiten bei der Partnersuche haben. Religion als solche war ihr dennoch wichtig und so wurden beide Kinder getauft.
Ihre vereint jüdisch-deutsche Identität pflegte sie zwar innerlich, aber es dauerte einige Jahrzehnte bis Ursula Beyrodt diese Facette ihrer Person endlich öffentlich und gemeinschaftlich ausleben konnte. Erst 1995, als ihr Mann schon verstorben war, wurde sie erneut zu einem aktiven Mitglied einer jüdischen Gemeinde, der ersten liberaljüdischen Gemeinde Hannovers. In diesem religiösen Milieu, wo beide Geschlechter gleichberechtigt sind, konnte sie sich geistlich wieder richtig entfalten: „Ich war die erste Frau, die in der neuen Gemeinde dazu aufgerufen wurde, aus der Tora zu lesen. Erst als ich das erste Mal vor der aufgeschlagenen Tora stand, merkte ich, dass ich vorher immer nur Zuschauerin gewesen war.“
Erst nach dem Wiedererwachen liberaljüdischen Lebens im Deutschland der Neunziger Jahre begann sich auch Ursulas Sohn Gerald, jetzt 42, erstmals dem Judentum auf persönlicher Ebene anzunähern. „Als Kind, als Jugendlicher, hab ich das Judentum eher als etwas Belastendes erlebt und die positiven, lebensbejahenden Seiten, die es hat, gar nicht mitbekommen. Ich habe erst später angefangen mir alles anzugucken und finde es jetzt sehr schön“, sagte Gerald Beyrodt.
Geralds Weg zum Glauben Moses entwickelte sich jedoch nicht direkt aus seiner Abkehr vom Christentum. Er erinnerte sich: „Ich war recht intensiv mit der Kirche befasst, aber ich habe wohl mit zwanzig gemerkt, dass der christliche Opfergedanke nicht so für mich ist. Dann hatte ich viele Jahre nichts mit Religion zu tun. In den letzten zehn Jahren bin ich ins Judentum wieder rein gewachsen.“ Er meinte, seine Zuwendung habe sicherlich viel sowohl mit der erneuten Mitgliedschaft seiner Mutter in der liberaljüdischen Gemeinde zu tun, wie auch mit Erfahrungen, die er durch seine Arbeit als freier Journalist jüdischer Themen gemacht habe.
Gerald und seine Mutter sind auf verschiedene Art und Weise zu ihrer gemeinsamen Religion gekommen und gehen ihre Ausübung dementsprechend auch unterschiedlich an. „Nicht, dass der Glaube mir wichtiger ist“, überlegte Gerald. „Er spielt natürlich eine andere Rolle für mich. Ich denke, meine Mutter hat eine geradezu wütende Abneigung gegen das Rituelle am Judentum. Aber ich glaube, die Rolle der Rituale ist schon manchmal sehr wichtig.“ Gerald isst so koscher wie möglich. Am Schabbat sucht er weitgehend Ruhe von Arbeit und Alltag, obwohl er ans Telefon geht und auch S-Bahn fährt, wenn es sein muss.
Er findet jedoch, dass Tradition und Glauben im Gleichgewicht stehen müssten. Er erklärte: „Wir sprechen viele Gebete und fast alle davon gehen los mit ‚Baruch atah Adonai,’ also ‚Gelobt seiest Du Ewiger.’ Wenn ich das spreche, muss es schon irgendeine Form von Realität für mich haben.“
Anders als im Christentum wird im eher intellektuellen Judentum vor allem ein reflektierter Glauben betont. Dies traf auch ziemlich genau Geralds Ansprüche: „Ich habe mich jüdisch Jakov genannt, also Jakob. Es gibt diese Geschichte, in der Jakob mit Gott ringt. Sie hat mich besonders interessiert. Ich war in meinem Leben sicher schon Atheist oder hatte meine atheistischen Momente und finde, dass Zweifeln dazu gehört und es genauso wichtig ist, wie die gläubigen Momente und genauso positiv.“
Egal, ob es um solche komplexen Glaubensfragen oder um einfache Traditionen geht, stellt das Judentum für viele Deutsche immer noch das Andere und Unbekannte dar. „Es gibt bei vielen Menschen einfach enorm viel Unkenntnis“, sagte Ursula Beyrodth.. „Da existieren zum Teil ganz abenteuerliche Vorstellungen.“ Gerald pflichtet ihr bei, dass viele Deutsche immer noch Juden mit archaischen Klischees verbänden, etwa mit schwarzen Hüten und langen Bärten. Alles müsse man umständlich erklären. Andererseits sehen Mutter und Sohn das Interesse an ihrer Religion auch als eine positive Entwicklung in der deutschen Gesellschaft.
Obwohl deutsche Schulen scheinbar noch einiges für die Aufklärung über die jüdische Religion tun müssen, sind sich Ursula und Gerald einig, dass sie seit 1968 meisterhaft die deutsche Vergangenheit behandeln. „Ich glaube, es gibt kaum ein anderes Volk, das seine Vergangenheit so aufgearbeitet hat, wie das deutsche“, sagte Ursula.
Aus ihren Worten wird ersichtlich, dass die Komplikationen im Umgang mit der Geschichte eben dadurch entstehen, dass einerseits kein Schlussstrich zu dem Thema gezogen werden kann, aber andererseits dadurch das Gefühl entsteht, Juden seien etwas Besonderes, und die Deutschen seien ihnen ewig etwas schuldig. Letzteres wollen Gerald und Ursula nicht.
Zentral in diesen Überlegungen sei natürlich der Begriff der Normalität, von dem man Geralds Meinung nach in Deutschland diesbezüglich nicht sprechen könne. „Aber was heißt Normalität?“, überlegte er laut. „Wenn es einen Völkermord gegeben hat, einen Genozid, dann ist nichts wirklich normal.“ Seine Mutter äußerte sich dazu etwas optimistischer: „Insgesamt würde ich schon sagen, dass ein Normalisierungsprozess im Gange ist, der aber längst noch nicht abgeschlossen ist. Das ist natürlich ein weiter Weg, aber das ist es, was ich und die meisten von uns anstreben.“
Auf der anderen Seite des Normalitätsproblems steht natürlich immer noch zu einem gewissen Grade der Antisemitismus. Ganz abgesehen von den eher selteneren gewalttätigen Angriffen auf einzelne Juden oder Gemeinden, reichen viel öfter kleine, in den Kaffeeklatsch eingeflochtene Kommentare, um einen versteckten Antisemitismus bloßzulegen. Ursula hat zum Beispiel auf einer Geburtstagsfeier erlebt, wie eine Frau, die nicht wusste, dass sie Jüdin ist, sagte: „Also Juden sind mir lieber als Zigeuner.“ Eine andere habe gemeint: „Die sollen doch nach Israel gehen. Das ist doch ihre Heimat!“ Allerdings sei die Judenfeindlichkeit keineswegs nur oder selbst vorrangig ein deutsches Problem. „Das ist in ganz Europa eine Gefahr“, versicherte Gerald.
Er selber lasse sich nicht von der Angst beeinflussen. „Ich weiß, dass es bestimmte Gefahren gibt und tue gewisse Dinge nicht. Ich würde zum Beispiel mit der Kippa ni
cht durch Marzahn laufen (ein dem Ruf nach neonazistisches Viertel Berlins). Aber ich bin eine andere Generation als die, die hier direkt nach dem Krieg aufgewachsen ist“, erklärte er. Zum Teil hätten Juden seiner Elterngeneration sogar noch nach 1945 aus
Sorge ihre Nachnamen verdeutscht. Er fuhr fort: „Ich unterschätze die Gefahren nicht, aber wenn man jüdisch leben will, muss man es selbstbewusst tun.“
Passend zur Historie des Judentums ist auch der Weg zu diesem neuen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis deutscher Juden eine lange Geschichte der Wanderungen und Umwege. „Lange Zeit dachte man, dass alle die Zelte abbrechen und nach Israel oder in die USA gehen. Das hat aber nicht gestimmt“, sagte Gerald Beyrodt.
Heute sind die Wirkungen eines Öffnungsprozesses deutlich sichtbar. Die Gemeinden richten sich immer mehr an die Außenwelt und würden immer mehr auch ihre größere soziale Verantwortung erkennen. Selbst Holocaustüberlebende wie Ursula Beyrodt haben bis heute eine gewisse Hemmschwelle überwunden und gehen öffentlicher mit ihrer jüdisch-deutschen Identität um. So kann sie heute klar und aufgeschlossen sagen, „Ich bin deutsche Staatsbürgerin jüdischen Glaubens.“
Die Autorin
Anna Mageras wurde 1987 in München geboren, wuchs aber außerhalb von New York auf. Dort besuchte sie eine deutsche Schule und machte ihr Abitur. Sie hat dieses Jahr ihren Bachelor in Geschichte an der Wesleyan University in Connecticut abgeschlossen.
„Ich bin deutsch und jüdisch, jüdisch und deutsch.“
Mutter und Sohn erfahren unterschiedliche Migrationen zum selben Ziel
Anna Mageras
Ursula Beyrodt, heute 78, kann die zwei Männer noch vor sich sehen, die an einem Abend im November 1938 in die Wohnung ihrer Eltern traten und sich im Wohnzimmer breit machten. „Mutti, die Männer sehen so düster aus“, soll sie damals gesagt haben, konnte jedoch als Fünfjährige nicht ahnen, dass diese Männer von der Gestapo gekommen waren, um ihren Vater zur Deportation ins Konzentrationslager Sachsenhausen zu führen. Frau Beyrodt kann sich auch noch daran erinnern, wie ihr Vater kurz vor Weihnachten desselben Jahres mit kahl geschorenem Haupt nach Hause zurückkehrte, und von ihrer Mutter in die Arme geschlossen wurde.
Der Familie war es trotz seiner Rückkehr klar, dass die Gefahr noch lange nicht vorüber war. So entschlossen sich die Eltern, ihre zwei Töchter mit dem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen. Die Mädchen kamen 1939 an der Nordwestküste Englands an und wurden mit anderen Flüchtlingskindern in einem Heim untergebracht, das von der dortigen jüdischen Gemeinde geleitet und finanziert wurde.
Als der Krieg endlich endete, befand sich das Heim plötzlich in Auflösung. „Alle anderen Mädchen im Heim hatten ihre Eltern in den KZs verloren“, erinnerte sich Ursula Beyrodt, deren Vater zwei KZ-Inhaftierungen überlebt hatte. „Und viele von ihnen sagten, nach Nazi-Deutschland würden sie nie zurückgehen.“ Einige blieben in England, wo sie sich verlobt oder verheiratet hatten, andere wanderten zu Verwandten in die USA oder nach Palästina aus.
Die Emigration hatte Beyrodts Eltern auch kurz vorgeschwebt. Sie hatten zu dem Zweck schon vor Kriegsbeginn ihre Wohnung in Berlin aufgegeben und waren nach Hannover gezogen, wo sie einer jüdischen Gartenbauschule beitraten. Dort wollten sie einen praktischen Beruf lernen, mit dem sie im Ausland ihren Unterhalt hätten verdienen können. Mit dem Kriegsausbruch wurden jedoch alle Hoffnungen auf eine Flucht zerstört.
1945 erfuhr die Familie noch mal einen Schock, als der Vater zum zweiten Mal von den Nazis festgenommen und diesmal ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht wurde. Er entkam der Deportation nach Auschwitz gerade noch, weil die Rote Armee das Lager rechtzeitig befreien konnte.
Trotz ihrer Erlebnisse schien mit der deutschen Niederlage 1945 der Wunsch nach Auswanderung zu verschwinden und Vater und Mutter stellten sich auf die Fortsetzung ihres Familienlebens in Deutschland ein. „Meine Eltern haben immer, selbst in den schlimmsten Zeiten, an das bessere Deutschland geglaubt. Sie haben wirklich unterschieden zwischen den Deutschen und den Nazis“, erklärte Beyrodt. Vor allem die Zivilcourage einzelner nichtjüdischer Deutscher ermöglichte es ihnen. während der NS-Zeit auf dieser Einstellung zu verharren. Sie erinnert sich zum Beispiel an den Hausmeister eines Krankenhauses, der das Ehepaar während Bombenangriffen in den Keller des Hospitals ließ. „Das war ein alter Sozialdemokrat aus altem Schrot und Korn“, sagte Ursula Beyrodt. „Und der hat auch was riskiert.“
Statt nach Israel auszuwandern und dort womöglich arbeitslos mit dem ihm unbekannten Hebräisch zu kämpfen, wollte der Vater also lieber als Richter am Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands mitarbeiten. Er habe nach 1945 dem deutschen Rechtsstaate vertraut. Ihre Mutter hat ihrerseits bei der Demokratisierung geholfen, indem sie bürokratisch die moralische Belastung deutscher Bürger ausgewertet und dadurch den Entnazifizierungsprozess vorangebracht hat.
Von dieser Überzeugung ihrer Eltern ausgehend, kehrten Ursula Beyrodt und ihre Schwester 1947 nach Deutschland zurück. Dort erwartete sie das dem Bildungsbürgertum heilige Studium, welches zu einer juristischen Laufbahn führen sollte, und vor allem natürlich eine Familie. Doch die musste nach so langer Trennung erstmal wieder zusammenwachsen, und sich fast von neuem kennen lernen.
Die damals vierzehnjährige Ursula hatte die deutsche Muttersprache fast ganz vergessen und die Worte, die ihr wieder einfielen, kamen aus dem Sprachschatz einer Sechsjährigen. Sie fühlte sich durchaus noch als Engländerin. Dennoch verhalfen ihr unter anderem die Einfühlsamkeit ihrer Mutter, die enge Freundschaft mit einer Mitschülerin und die nette Aufnahme durch ihre Klassenkameradinnen (von denen einige noch kurz vorher BdM-Führerinnen gewesen waren) zu einer allmählichen Eingewöhnung. Das Gefühl, absolut Deutsche zu sein, wuchs langsam nach.
„Vor allem hatte ich dieses Gefühl, ein richtiges Zuhause zu haben und nicht mehr ein Heimkind zu sein“, sagte Beyrodt. „Ich war plötzlich jemand.“
Und zu diesem Jemand gehörte auch weiterhin im Nachkriegsdeutschland das Judentum. Im englischen Heim hatte der jüdische Religionsunterricht eine große Rolle gespielt. Die stundenlangen Schabbatgottesdienste hatten Ursula Beyrodt zwar gelangweilt, dafür hatte sie die Bedeutsamkeit des Kiddusch, der Freitagszeremonie, verinnerlicht und führte sie in ihrer Familie ein. „Heute bin ich dankbar dafür, dass ich damals so viel gelernt habe, denn in unserer liberaljüdischen Gemeinde bin ich unter den wenigen, die die Gebete beherrschen.“
Allerdings wurde der Glaube für die Familie immer mehr zur Privatangelegenheit, da es nach dem Krieg nur orthodoxe Synagogen gab und das liberale Judentum größtenteils ausgewandert war. „Es ist ja immer so: Nach Verfolgungszeiten ist meistens eine Rückkehr zum Strenggläubigen da“, meinte Beyrodt dazu.
Diese Entwicklung passte jedoch insbesondere ihrem Vater nicht: „Immer wenn Feiertage waren sagte meine Mutter: ‚Fritz, wir müssen in die Synagoge gehen.’ Und dann sagte mein Vater, ‚Ich würde ja gerne, aber die ganze Nazizeit über, außer in der KZ-Zeit, sind wir zusammen gewesen. Aber in der Synagoge sitze ich unten und du musst oben sitzen.’ Das hat ihn immer gestört.“
Die graduelle Abwendung von der orthodoxen Gemeinde, sowie mangelnder Kontakt zu anderen liberalen Juden führte schließlich dazu, dass Ursula einen Protestanten in einer Kirche heiratete. Obwohl sie eine Zeit lang noch gemeinsam freitags den Schabbat feierten, sahen sich Ursula und ihr Mann genötigt, ihre Kinder christlich aufzuziehen. Sie befürchteten, ihre beiden Söhne würden sonst später vor den gleichen Problemen stehen und in einer nicht-jüdischen Umgebung ohne wirkliche Gemeinschaft leben und womöglich auch deshalb Schwierigkeiten bei der Partnersuche haben. Religion als solche war ihr dennoch wichtig und so wurden beide Kinder getauft.
Ihre vereint jüdisch-deutsche Identität pflegte sie zwar innerlich, aber es dauerte einige Jahrzehnte bis Ursula Beyrodt diese Facette ihrer Person endlich öffentlich und gemeinschaftlich ausleben konnte. Erst 1995, als ihr Mann schon verstorben war, wurde sie erneut zu einem aktiven Mitglied einer jüdischen Gemeinde, der ersten liberaljüdischen Gemeinde Hannovers. In diesem religiösen Milieu, wo beide Geschlechter gleichberechtigt sind, konnte sie sich geistlich wieder richtig entfalten: „Ich war die erste Frau, die in der neuen Gemeinde dazu aufgerufen wurde, aus der Tora zu lesen. Erst als ich das erste Mal vor der aufgeschlagenen Tora stand, merkte ich, dass ich vorher immer nur Zuschauerin gewesen war.“
Erst nach dem Wiedererwachen liberaljüdischen Lebens im Deutschland der Neunziger Jahre begann sich auch Ursulas Sohn Gerald, jetzt 42, erstmals dem Judentum auf persönlicher Ebene anzunähern. „Als Kind, als Jugendlicher, hab ich das Judentum eher als etwas Belastendes erlebt und die positiven, lebensbejahenden Seiten, die es hat, gar nicht mitbekommen. Ich habe erst später angefangen mir alles anzugucken und finde es jetzt sehr schön“, sagte Gerald Beyrodt.
Geralds Weg zum Glauben Moses entwickelte sich jedoch nicht direkt aus seiner Abkehr vom Christentum. Er erinnerte sich: „Ich war recht intensiv mit der Kirche befasst, aber ich habe wohl mit zwanzig gemerkt, dass der christliche Opfergedanke nicht so für mich ist. Dann hatte ich viele Jahre nichts mit Religion zu tun. In den letzten zehn Jahren bin ich ins Judentum wieder rein gewachsen.“ Er meinte, seine Zuwendung habe sicherlich viel sowohl mit der erneuten Mitgliedschaft seiner Mutter in der liberaljüdischen Gemeinde zu tun, wie auch mit Erfahrungen, die er durch seine Arbeit als freier Journalist jüdischer Themen gemacht habe.
Gerald und seine Mutter sind auf verschiedene Art und Weise zu ihrer gemeinsamen Religion gekommen und gehen ihre Ausübung dementsprechend auch unterschiedlich an. „Nicht, dass der Glaube mir wichtiger ist“, überlegte Gerald. „Er spielt natürlich eine andere Rolle für mich. Ich denke, meine Mutter hat eine geradezu wütende Abneigung gegen das Rituelle am Judentum. Aber ich glaube, die Rolle der Rituale ist schon manchmal sehr wichtig.“ Gerald isst so koscher wie möglich. Am Schabbat sucht er weitgehend Ruhe von Arbeit und Alltag, obwohl er ans Telefon geht und auch S-Bahn fährt, wenn es sein muss.
Er findet jedoch, dass Tradition und Glauben im Gleichgewicht stehen müssten. Er erklärte: „Wir sprechen viele Gebete und fast alle davon gehen los mit ‚Baruch atah Adonai,’ also ‚Gelobt seiest Du Ewiger.’ Wenn ich das spreche, muss es schon irgendeine Form von Realität für mich haben.“
Anders als im Christentum wird im eher intellektuellen Judentum vor allem ein reflektierter Glauben betont. Dies traf auch ziemlich genau Geralds Ansprüche: „Ich habe mich jüdisch Jakov genannt, also Jakob. Es gibt diese Geschichte, in der Jakob mit Gott ringt. Sie hat mich besonders interessiert. Ich war in meinem Leben sicher schon Atheist oder hatte meine atheistischen Momente und finde, dass Zweifeln dazu gehört und es genauso wichtig ist, wie die gläubigen Momente und genauso positiv.“
Egal, ob es um solche komplexen Glaubensfragen oder um einfache Traditionen geht, stellt das Judentum für viele Deutsche immer noch das Andere und Unbekannte dar. „Es gibt bei vielen Menschen einfach enorm viel Unkenntnis“, sagte Ursula Beyrodth.. „Da existieren zum Teil ganz abenteuerliche Vorstellungen.“ Gerald pflichtet ihr bei, dass viele Deutsche immer noch Juden mit archaischen Klischees verbänden, etwa mit schwarzen Hüten und langen Bärten. Alles müsse man umständlich erklären. Andererseits sehen Mutter und Sohn das Interesse an ihrer Religion auch als eine positive Entwicklung in der deutschen Gesellschaft.
Obwohl deutsche Schulen scheinbar noch einiges für die Aufklärung über die jüdische Religion tun müssen, sind sich Ursula und Gerald einig, dass sie seit 1968 meisterhaft die deutsche Vergangenheit behandeln. „Ich glaube, es gibt kaum ein anderes Volk, das seine Vergangenheit so aufgearbeitet hat, wie das deutsche“, sagte Ursula.
Aus ihren Worten wird ersichtlich, dass die Komplikationen im Umgang mit der Geschichte eben dadurch entstehen, dass einerseits kein Schlussstrich zu dem Thema gezogen werden kann, aber andererseits dadurch das Gefühl entsteht, Juden seien etwas Besonderes, und die Deutschen seien ihnen ewig etwas schuldig. Letzteres wollen Gerald und Ursula nicht.
Zentral in diesen Überlegungen sei natürlich der Begriff der Normalität, von dem man Geralds Meinung nach in Deutschland diesbezüglich nicht sprechen könne. „Aber was heißt Normalität?“, überlegte er laut. „Wenn es einen Völkermord gegeben hat, einen Genozid, dann ist nichts wirklich normal.“ Seine Mutter äußerte sich dazu etwas optimistischer: „Insgesamt würde ich schon sagen, dass ein Normalisierungsprozess im Gange ist, der aber längst noch nicht abgeschlossen ist. Das ist natürlich ein weiter Weg, aber das ist es, was ich und die meisten von uns anstreben.“
Auf der anderen Seite des Normalitätsproblems steht natürlich immer noch zu einem gewissen Grade der Antisemitismus. Ganz abgesehen von den eher selteneren gewalttätigen Angriffen auf einzelne Juden oder Gemeinden, reichen viel öfter kleine, in den Kaffeeklatsch eingeflochtene Kommentare, um einen versteckten Antisemitismus bloßzulegen. Ursula hat zum Beispiel auf einer Geburtstagsfeier erlebt, wie eine Frau, die nicht wusste, dass sie Jüdin ist, sagte: „Also Juden sind mir lieber als Zigeuner.“ Eine andere habe gemeint: „Die sollen doch nach Israel gehen. Das ist doch ihre Heimat!“ Allerdings sei die Judenfeindlichkeit keineswegs nur oder selbst vorrangig ein deutsches Problem. „Das ist in ganz Europa eine Gefahr“, versicherte Gerald.
Er selber lasse sich nicht von der Angst beeinflussen. „Ich weiß, dass es bestimmte Gefahren gibt und tue gewisse Dinge nicht. Ich würde zum Beispiel mit der Kippa nicht durch Marzahn laufen (ein dem Ruf nach neonazistisches Viertel Berlins). Aber ich bin eine andere Generation als die, die hier direkt nach dem Krieg aufgewachsen ist“, erklärte er. Zum Teil hätten Juden seiner Elterngeneration sogar noch nach 1945 aus Sorge ihre Nachnamen verdeutscht. Er fuhr fort: „Ich unterschätze die Gefahren nicht, aber wenn man jüdisch leben will, muss man es selbstbewusst tun.“
Passend zur Historie des Judentums ist auch der Weg zu diesem neuen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis deutscher Juden eine lange Geschichte der Wanderungen und Umwege. „Lange Zeit dachte man, dass alle die Zelte abbrechen und nach Israel oder in die USA gehen. Das hat aber nicht gestimmt“, sagte Gerald Beyrodt.
Heute sind die Wirkungen eines Öffnungsprozesses deutlich sichtbar. Die Gemeinden richten sich immer mehr an die Außenwelt und würden immer mehr auch ihre größere soziale Verantwortung erkennen. Selbst Holocaustüberlebende wie Ursula Beyrodt haben bis heute eine gewisse Hemmschwelle überwunden und gehen öffentlicher mit ihrer jüdisch-deutschen Identität um. So kann sie heute klar und aufgeschlossen sagen, „Ich bin deutsche Staatsbürgerin jüdischen Glaubens.“