Die studentische Rede auf der Immatrikulationsfeier

Wir nutzen die Gelegenheit, die studentische Rede bei der Immatrikulationsfeier am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften hier noch einmal zum nachlesen einzustellen:

Hallo liebe Erstsemester und Masterstudierende,

jetzt auch noch mal von studentischer Seite ein „herzliches Willkommen“.

Ich freue mich, dass hier auch die studentischen Gruppen des Fachbereichs die Gelegenheit erhalten haben, euch willkommen zu heißen und das tue ich hiermit für die Fachschaftsinitiativen der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, der Soziologie und der Ethologie und der Politikwissenschaften.

Ich bin Julia von der Fachschaftsinitative des Otto- Suhr- Instituts und studiere jetzt im 3. Semester Politikwissenschaften auf Bachelor.
Das heißt vor einem Jahr war ich in der gleichen Situation wie viele von euch heute.
Damals war ich ziemlich aufgeregt (und das bin ich im Übrigen immer noch), weil hier alles so neu war und kompliziert wirkte.
Viele von euch sind bestimmt gerade zum ersten Mal zu Hause ausgezogen und ihr seid dabei, einen neuen Lebensabschnitt anzufangen.

In meinen Einführungstagen hat damals eine Studentin gesprochen und mir mit ihren Worten sehr viel Mut gemacht. Ihr habt die Einführungstage ja schon hinter euch. Wenn Ihr trotzdem noch auf wankendem Boden stehen solltet – keine Sorge, das legt sich mit der Zeit.
Wenn Ihr noch Fragen habt, was ich sehr hoffen will, dann scheut euch nicht, immer wieder nachzuhaken, bis ihr eine für euch befriedigende Antwort bekommt.
„Lasst Euch nicht verrückt machen“, hat damals die Studentin zu uns gesagt und diesen Satz kann ich nur, mit einem dicken Ausrufungszeichen versehen, an Euch weitergeben.
Ihr werdet in den nächsten Wochen und überhaupt im Laufe eures ersten Semesters sehr viel darüber hören, was ihr unbedingt machen müsst, was ihr auf keinen Fall verpassen dürft, wie ihr euer Studium zu absolvieren habt, wann ihr ins Ausland geht, dass ihr euch am Besten jetzt schon für Praktika bewerben sollt usw.

Ich gebe Euch einen anderen Rat: Nehmt Euch das gesamte erste Semester Zeit, um herauszufinden, was für Euch persönlich das Beste ist. Denn was für die Eine super ist, ist es für den Anderen nicht automatisch auch. Mir hat es damals geholfen, den Stundenplan im ersten Semester nicht zu voll zu stopfen – obwohl es mich Überwindung gekostet hat.
Denn es dauert, bis Ihr Euch an das Lesen wissenschaftlicher Texte gewöhnt habt. Konzentriert euch auf die Texte und Seminare, die ihr gerade am spannendsten findet. Schnuppert in möglichst viel hinein, aber entscheidet euch in den nächsten zwei Wochen für klare Schwerpunkte für dieses erste Semester. Und lasst euch nicht von Dozent_innen oder Kommiliton_innen einreden, es sei eben Standard, so und so viele hundert Seiten pro Woche zu lesen. Findet euren eigenen Rhythmus. Wichtig ist nicht, wie viel ihr in einem Semester schafft, sondern wie gründlich ihr das macht, was euch aktuell weiterbringt.
Es ist euer Lernprozess!

Außerdem gibt es gerade im ersten Semester viele Veranstaltungen an der Uni, die euren Stundenplan füllen werden: Besonders empfehle ich euch die Erstsemesterfahrten in eurem Studiengang. Außerdem solltet ihr euch Zeit nehmen für begleitende Tutorien, Unisport, Lesekreise, Ringvorlesungen, Sprachkurse und andere Angebote hier an der Uni.
Und schaut auch mal in das alternative Veranstaltungsverzeichnis hinein. Da findet ihr viele selbst organisierte Arbeitskreise, in denen ihr euch ohne jeden Druck und frei von inhaltlichen Vorgaben Perspektiven aneignen könnt, die den Mainstream der Sozialwissenschaften kritisch hinterfragen. Schließlich solltet ihr nicht vergessen, auch noch ein bisschen zu leben. Denn das geht erfahrungsgemäß in Berlin besonders gut. Gerade als Studierende.
Doch nun zurück zur Hochschule:
Wie ihr vermutlich wisst, ist die deutsche Universitäts-Landschaft seit Jahren im Umbruch, das gilt auch für die Freie Universität.
Einige von Euch haben vielleicht schon in den letzten Tagen ein paar Informationen diesbezüglich bekommen. Andere fragen sich wahrscheinlich, wie sie sich bei all den individuellen Orientierungsschwierigkeiten und dem hohen Arbeitspensum auch noch in der Hochschulpolitik engagieren sollen? Nach meiner Erfahrung hilft es aber gerade bei der Suche nach einem eigenen Weg durch das Labyrinth der Wissenschaften, sich gemeinsam mit anderen Gedanken über deren Ausgestaltung und Veränderung zu machen.

Ich möchte diese Rede nicht nutzen, um hier Wahlkampf zu betreiben, auch wenn es verlockend wäre, die Sprechzeit hierfür zu nutzen. Nein! Ich möchte Euch dazu aufrufen, Euch selber ein Bild von den verschiedenen hochschulpolitischen Gruppen hier an der Uni zu machen.
Jeder und Jede (mich eingeschlossen), mit dem ihr hier an der Universität sprechen werdet, hat ihren oder seinen ganz eigenen politischen Standpunkt. Meine Erfahrung ist, dass ihr zwar Menschen treffen werdet, die behaupten, sie seinen zu 100% neutral. Tatsächlich nehmen aber auch sie eine bestimmte, stets zu hinterfragende, Sichtweise ein.
Als angehende Sozialwissenschaftlerinnen und Wissenschaftler steht euch der Mythos der totalen Neutralität ohnehin schlecht zu Gesicht.
Wissenschaft findet nicht im Elfenbeinturm statt, sondern ist durchzogen von vielfältigen sozialen und politischen Konflikten!
Diese Einsicht ist leider kein Allgemeingut an der Uni. Es werden Euch Texte begegnen, in denen der Anspruch erhoben wird, alle Parteien ganz unabhängig zu analysieren. Dennoch ist jeder Text aus einer bestimmten Motivation oder Perspektive heraus geschrieben – und die nimmt, ob bewusst oder unbewusst, immer auch Partei. Als Studierende und gerade als Sozialwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen ist es unsere Aufgabe, nach diesen Motivationen und Parteinahmen zu fragen.
Meiner Ansicht nach ist das Studium eine Möglichkeit, die Gesellschaft, in der wir leben, besser zu verstehen und ihren ständigen Wandel zu beobachten. Dazu gehört auch, Ungerechtigkeiten zu kritisieren und unseren persönlichen Einfluss geltend zu machen.
Wenn Ihr euch mit diesem Selbstverständnis einlasst, dann werdet ihr auch eine Menge über Euch selbst lernen. Aber das will ich an dieser Stelle nicht vertiefen, das kommt dann von ganz alleine.

Als wichtig empfinde ich es – und dafür möchte ich jetzt doch ein bisschen die Werbetrommel rühren – dass Ihr Euch an dieser Universität in irgendeiner Weise einbringt. Denn von unserer studentischen Mitgestaltung lebt die Universität. Das ist unser Raum.
Und wir sind viel mehr als Humankapital, auch wenn das heute oft vergessen wird.
Helft mit, die Universität so zu gestalten, wie ihr Sie haben wollt.
Denn ihr seid (spätestens seit heute) Teil dieser Uni und könnt auf ihre Entwicklung Einfluss nehmen und sowohl Euch selbst als auch euren Kommilitonen und Kommilitoninnen heute und in Zukunft einen Ort gestalten, an dem es sich zu studieren lohnt.
Nutzt die Pfade und Hebel, die es hier gibt, auch wenn uns Studierenden – bildlich gesprochen – eine Menge Steine in den Weg gelegt werden. Aber es gibt eben auch Chancen, diese gemeinsam beiseite zu schieben. Je mehr wir sind, desto besser lassen sie sich bewegen.

Ich will nicht in einer Generation leben, von der gesagt wird, sie sei Politik verdrossen.
Es gibt wahrlich genug Gründe, sich politisch einzumischen in diesen Zeiten.
So auch in der Hochschule:
Der Bologna Prozess zieht eine Umstrukturierung der Studiengänge nach sich. Das Diplom wird durch die Bachelor- und Masterstudiengänge abgelöst. Dabei geht es nicht um die Frage, welcher Abschluss mehr wert ist oder besser in der Wirtschaft ankommt. Nein!
Es geht um etwas viel grundsätzlicheres. Nämlich ob das Studium einer bloßen Wissens- und Kompetenzvermittlung dient oder selbstständige und kritisch denkende Individuen hervorbringt?

Ich denke, der aktuelle Umstrukturierungsprozess führt tendenziell weg vom freien, selbst bestimmten Studieren und hin zu einem verschulten Studium mit hohem Zeitdruck und engen Vorgaben.
Manche von euch mögen das anders sehen, aber lasst uns darum streiten!
Denn – und das wird meines Erachtens bei der Diskussion um die neuen Abschlüsse häufig vergessen – Bologna ist kein Schicksal, das wir passiv hinzunehmen haben, sondern im Gegenteil eine Gelegenheit, über die Neugestaltung des Studiums hier vor Ort zu diskutieren.
Das ist ja gerade das Wesen der Politik: Sie ist kein Schicksal, sondern ein Akt der gemeinsamen Gestaltung sozialer Verhältnisse.
Dass zum Beispiel ein Bachelor-Studium 6 Semester dauert, ist keine europäische Vorgabe, sondern eine Entscheidung der Universität – die übrigens aktuell gerade auf der Kippe steht. Nicht zuletzt in Folge der studentischen Proteste, etwa im Rahmen des Bildungsstreiks im letzten Juni, ist die Diskussion über eine Verlängerung des Bachelors auf 8 Semester neu eröffnet.
Auch die Modulvorgaben sind, wie ich finde, an einigen Stellen äußerst korrekturbedürftig. Und schließlich wissen gerade diejenigen unter Euch, die am Anfang ihres Masterstudiengangs stehen, dass der Zugang zum Master keinesfalls frei, sondern höchst selektiv ist. Dasselbe gilt für den Studienzugang insgesamt.
Ich muss Euch ja wohl nicht sagen, dass ihr spätestens jetzt Elite seid – auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt – in einem Seminar mit 100 Leuten auf dem Boden hockend, kein Wort zu verstehen, aber Anwesenheitspflicht zu haben.
Was sich an den Universitäten gegenwärtig abspielt, ist eine massive Verschärfung sozialer Ausgrenzung. Auch deshalb halte ich es zum Beispiel für notwendig, weiterhin massiv gegen die Einführung von Studiengebühren zu kämpfen.

„Nun macht sie doch Wahlkampf“ werden viele von euch jetzt denken.
Aber mein Ziel ist es nicht Mitglieder für eine spezifische, hochschulpolitische Gruppe zu rekrutieren, sondern Euch daran zu erinnern, dass wir das Recht haben, uns zu äußern und mit unseren Forderungen ernst genommen zu werden.
Doch sich einzusetzen, bedeutet auch den Mut zu haben, den Mund auf und sich selbst dadurch angreifbar zu machen. Dafür die nötige Kraft und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, sollte ein Ziel eures Studiums sein.

Abschließen möchte ich meine Rede mit einem weiteren Satz der Studentin, die letztes Jahr zu uns gesprochen hat und den ich im ersten Augenblick etwas pathetisch fand.
Ich habe mich jedoch im Laufe des letzten Jahres häufiger an ihn erinnert und finde heute, dass die Sache selbst das Pathos fordert.
Er lautet: „Lasst eure Angst nicht größer werden als eure Ideale“.

Dankeschön!!!

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